Murmeln

Kalksteinkugeln

Auch Murmeln sind ein sehr altes Spielzeug. Funde aus babylonischer, römischer und germanischer Zeit belegen, dass das Murmelspiel bereits sehr alt ist. Die ältesten Murmeln datieren von 3000 vor Chr. Eine Anzahl runder Schmucksteine fand man als Beigabe im Grab eines ägyptischen Kindes in Naqada. Im Britischen Museum lagern Murmeln aus Kreta, die auf 2000–1700 vor Chr. datiert sind.

In unserem Europa galten die Salzburger Märbel (=Murmeln) schon im 16. Jahrhundert als besonders schön und wurden von den Händlern europaweit als Spielzeug für die Kinder der Oberschichten angeboten.

Die Salzburger hüteten ihr Geheimnis wohl, wie sie es fertig brachten, solch perfekt runde Murmeln herzustellen. Doch als 1732 über dreißigtausend Salzburger Protestanten, darunter auch Märbelhersteller, wegen ihrer Religion vertrieben wurden und viele davon gen Norden, ins tolerante Preußen (in Glaubensfragen) zogen, nahmen sie das Geheimnis mit. Unterwegs kamen sie auch in Thüringen vorbei, wo sie gastfreundlich aufgenommen wurden. Die Thüringer kannten die Salzburger Murmeln, und man wird sich unterhalten haben über Produktionstechniken und Möglichkeiten des Aufbaus einer lokalen Industrie. Nachweislich geblieben ist keiner der Flüchtlinge; doch werden sich erste Ideen damals in den Köpfen der Thüringer eingenistet haben.

Es dauerte dreißig Jahre, bis einem Thüringer Kaufmann die erste Konzession zum Bau einer Märbelmühle erteilt wurde, und viele weitere Jahre, bis sich das neue Geschäftsmodell, die Herstellung von Murmeln, etabliert hatte. Zu ihren Bestzeiten, etwa im Jahr 1880, exportierten die Thüringer Märbelmühlen 135 Millionen Murmeln in die ganze Welt. Die billigen Steinmurmeln waren da schon lange kein Spielzeug mehr, sie wurden in den modernen Waffen der damaligen Zeit verwendet. Diese wurden vorrangig im Seegefecht eingesetzt: Als sogenannte Kartätschen, als Geschoss, zerfetzten sie die Takelage von Schiffen, bis die Einführung von segelfreien Dampfschiffen diesem Tun ein Ende setzte.

Aber nicht nur in der Militärtechnik fanden sie Verwendung. Handelsschiffe führten die Murmeln in Säcken verpackt als Ballast mit. Als sogenannte One-way-Murmeln um dann Platz zu machen, dafür mit Gewürze und Stoffe beladen die Rückreise anzutreten. Ob die legendären Tauschgeschäfte mit den „edlen Wilden“, Murmeln gegen Elfenbein oder Sklaven, auch damit zusammenhängen, bleibt Vermutung, würde aber erklären, wie man überhaupt auf die Idee kam, so viele Murmeln mitzunehmen.

Sicherlich brachte so mancher Seeman die Murmeln von seinen Fahrten mit nach Hause und so gelangten sie auch in die kleinen Kinderhände in fast allen Schichten der Bevölkerung.

Herstellung

Doch bis die Thüringer Murmel zu einem solchen Weltexportschlager werden konnte, war zu klären welcher heimische Rohstoff sich eignete und welches Verfahren dazu notwendig war.

Marmor, wie in Salzburg oder Berchtesgaden, gab es in Thüringen keinen. Es gab aber Muschelkalkstein, und nach vielen Versuchen wusste man auch, aus welchen Gesteinsschichten er sich am besten eignete: Denn war er zu hart, beschädigte er die Mühle; war er zu weich, gab es zu viel Ausschuss.
Zum Abbau des Gesteins setzte man Tagelöhner ein. Diese mussten, wenn nötig, auch Stollen graben, um an den Stein zu gelangen. Und das konnte lebensgefährlich werden.
Die ganze Familie half mit, den Stein aus dem Stollen zu schaffen und in kleinen Holzhütten zu lagern. Auf gepachteten Wiesen standen solche "Indianerdörfer", wie die Ansammlung dieser Lager im Volksmund genannt wurde. Der frisch geschlagene Stein musste sorgfältig abgedeckt werden; wurde er zu kalt oder zu trocken, zerbröckelte er schnell. Im nächsten Schritt mussten aus dem Stein kleine gleichmäßige Würfel geklopft werden, die dann, um das Zählen zu vereinfachen, in eine Kiste von vorbestimmter Größe gepackt wurden. Ein geübter Märbelpicker schaffte neuntausend bis zehntausend Würfel an einem Tag.

Wenn der Märbelpicker seine Kästchen mit Steinwürfeln zum Märbelmüller trug, wurde er dort für seine Arbeit belohnt: Außer seinem Lohn erhielt er noch eine Mahlzeit und einen Trunk.

Was geschah nun in der Mühle?

An die siebenhundert Kalksteinwürfel wurden hierzu auf den gusseisernen Mahlstein, der mit Rillen versehen war, gelegt. Dann wurde von oben der Mühlstock aus hartem Buchenholz heruntergelassen, und das Mühlrad begann sich zu drehen. Ein Mahlgang dauerte zirka dreißig bis fünfundvierzig Minuten, dabei schlugen sich die Würfel gegenseitig rund.

Aber damit war die Murmel noch nicht fertig, zumindest nicht die als Spielzeug dienen sollte. Denn ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten Glaskugeln auf, die bei den Kindern beliebt waren. So mussten also die Steinmurmeln ebenfalls möglichst bunt und leuchtend aussehen. Man konnte entweder bereits die Würfel einfärben, indem man sie in gefärbte Flüssigkeit legte, oder aber man streute die Farbe in einem zweiten Mühlgang auf die Murmeln und ließ durch die Reibung die Farbe in die Murmeln brennen. Im nächsten Schritt wurde mit einer Schwefellösung die Farbe intensiviert. Da der Müller dabei aber viel giftigen Farbstaub einatmete, ging man später dazu über, in rotierenden Fässern zu färben, was wunderbar funktionierte.  

Als die Märbelindustrie unzählige Familien ernährte, zählte man in Südthüringen einhundertdrei Märbelmühlen entlang der Bäche und Flüsse. Das Geschäft mit den Märbeln war kein stetes, und es war vor allen Dingen ein Pfenniggeschäft. In Kriegszeiten wurden viele Murmeln gekauft, in Friedenszeiten nur wenige.