Zeitzeuge von 45

Kriegsende in Naundorf


Zeitzeugenbericht zum Zusammenbruch des „1000 jährigen Reiches“ von Ernst Gräfe Groß Naundorf – Kolonie. So euphorisch wurde der Bericht über den Tag von der sowjetischen Besetzung unserer Region durch die damaligen Chronisten benannt. Das Originalschreiben, welches die eigenhändige Unterschrift des Ernst Gräfe, aufweist, wurde der Ortschronik in Original­schrift beigefügt.

In der Chronik steht dazu:

In der Zeit nach 1945.

Nachdem wochenlang vorher endlose Trecks von Flüchtlingen, wenn vielleicht auch nicht durch das Dorf, so doch in unmit­telbarer Nähe z. B. Prettin gekommen waren, kam der Befehl Naundorf zu evakuieren. Die Dorfbewohner verließen, bis auf einige wenige, den Ort in Richtung Dommitzsch. Zeitdauer 4 Wochen, somit erlebten sie das Ende des Krieges zwischen El­be und Mulde. Auf der Durchgangsstraße Annaburg-Prettin in Höhe des Springerschen (Oswald) Hauses war eine Panzersperre er­richtet, zwei weitere befanden sich an Herings und Schwamborn. Es wird noch von 2 Faßsperren, 1 davon bei Goldfuß, berichtet.

und weiter

Am 23. April erfolgte der Einzug der Roten Armee. Im selben Jahre kam auch ein Umsiedlerstrom von 300 Menschen nach Naundorf. Es waren dies Menschen aus Pommern, Schlesien u. Sudetenland, der Müllersche Saal bildete wieder ein Massenquartier. Später erfolgte von hier aus die Verteilung auf die einzelnen Gehöfte.

über die Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkrieg folgen diese Informationen:

1945 war gleichzeitig auch das Jahr der Bodenreform. Das ehemalige Gut Boettcher wurde an Umsiedler, Neubauern (Landarbeiter) Aufstockbauern verteilt. Dies sind: Marie Walossek, und für Herfurth (oder ähnlich Namens) Erwin Fuhrmann, Ernst Lösche, Richard Sitte und in Kolonie Paul Knochmuß, Hermann Meißner und Kurt Pliefke.

Ernst Gräfe wurde mit dem 05.10.1947 wieder Gemeindevorsteher. Im März 1949 wird die Organisation der „Jungen Pioniere” gegründet. Im Zuge der Feststellung von Herrenhäusern, darunter auch das Boettchersche Haus fallen sollte, beauftragte die Gemeindevertretung mit dem 23.10.49 die Fa. Gregor Annaburg, eine Skizze anzufertigen, dass es sich hier um nicht ein solches handelt und für die Umsiedler als Wohnungen dringend benötigt werde und stehen bleiben müsste. Der vorgetragene Vorschlag, die rechts von der Plossiger Straße abzweigende den Namen des 1. Vorsitzenden der kommunistischen Partei „Holzweißig” Straße zu benen-nen, wurde am 23.04.1949 einstimmig angenommen.

Ernst Gräfe, als Zeitzeuge dieser einschneidenden Zeit wurde von den damaligen Chronisten befragt, er schreibt deshalb darüber:

Schon am Sonnabend, dem 21.04. packte ein Teil der Einwohner die notwendigsten Sachen, trafen Vorbereitungen zur Flucht. Die Bauern machten ebenfalls Pferde und Wagen zur Flucht fertig, alle wollten westlich der Elbe, weil angeblich die Rote Armee nur bis zur Elbe vordringen sollte? und westlich der Elbe der Amerikaner?

Am Sonntag, dem 22.04. flüchtete der größte Teil der Einwohner, ein Teil noch am Montag, so daß nur ein kleiner Teil, ca. 20 % blieben. Auch in Kolonie waren 4/5 geflüchtet.

Bemerkt sei noch, daß ich am Montag gegen Abend nach Annaburg fuhr (am 23.04.). Als ich an die Steingut kam, kamen ca. 15 SS- Leute mit Motorrädern aus Richtung Prettin, Ziel - Gastwirt­schaft Dubro. Dort hatten sich ca. 270 - 280 Arbeiter zusammengefunden (Volkssturm), um über die nächsten Aufgaben zu beraten. Die SS hatte den Auftrag, festzustellen, wer am Nachmit­tag die 2 weißen Fahnen gehisst hatte. Der Kollege Markhard hat­te die weißen Fahnen zum Wohle der Stadt gehisst, damit die Stadt nicht in Trümmern geschossen wird. Er selbst war durch den Wald nach Kolonie geflüchtet und hatte sich bei mir versteckt. Trotz der großen Fresse und langem Suchen, mußte die SS unver­richteter Sache wieder abziehen. Der Befehl der Nazi lautete: jede Stadt, jedes Dorf vom Volkssturm zu verteidigen.

Meine Erkundung in Annaburg war die: ich hatte erfahren, daß die Rote Armee bereits in Richtung Annaburg war. Am nächsten Morgen, also am Dienstag (24.04.), früh 07 Uhr war die Rote Armee in Annaburg auf dem Marktplatz, habe das sofort erfahren und ein weißes Tuch als Fahne am Eingang der Kolonie aufgehängt, um damit der Roten Armee zu verstehen zu geben, daß sich das Dorf nicht verteidigt.

Schon am Nachmittag gegen 14 Uhr kamen die ersten Melder, Späh­wagen, Panzer u. wollten in Richtung Prettin, fragten mich, ob Soldaten sich im Ort aufhalten. Wieviel km bis Prettin. An Hand ihrer Karte, habe ich ihnen Auskunft gegeben. Sie sprachen etwas deutsch u. forderten 1 Glas Wasser. Zuerst mußte ich trinken, bedankten sich und fuhren weiter.

Am nächsten Tag (25.04.) war dann die Kolonie der Durchsuchung ausge­setzt, jedes Haus wurde durchsucht. Ich mußte in jedes Haus zu­erst rein, die meisten Eingangstüren waren verschlossen, haben mich zum Fenster reingehoben, um wenn möglich von drin die Tür zu öffnen, denn die meisten Einwohner waren ja geflüchtet. Erste Frage, wenn ich wieder rauskam, ob Soldaten drin versteckt sind. Erst dann haben sie die Durchsuchung auf genommen und verschie­denes auf ihren Wagen mitgehen lassen. Alle, die ein Haus hat­ten, waren nach ihrer Meinung Kapitalisten. Auch die nächsten Tage waren laufend Patrouillen unterwegs.

Von meinem Bodenfenster haben die Soldaten 2 Tage den Wald be­obachtet und unter Feuer gehalten. Auch ich war ein Kapitalist, weil ich ein Haus hatte. Erst als ich am 30.04. einem Melder mein Parteibuch zeigte, daß ich seit 1921 der KPD angehöre und auch Vorsitzender der Ortsgruppe gewesen bin, daraufhin mußte ich schon am nächsten Tag zum Kommandanten Kommen. Das war am 01. Mai 1945. Ich mußte meinen Lebenslauf erzählen.

Er war natürlich erstaunt, daß die KPD im Gemeindeparlament die Mehrheit hatte, ich selbst 1929 zum Bürgermeister gewählt wurde, aber schon nach einem Jahr abgesetzt wurde, weil ich Kommunist und Gegner der Notverordnungen war, die damals 1930, herausgege­ben worden waren. Arbeitslosigkeit, Bürgersteuer usw. Ich wurde mit 3 Mon. Gefängnis bestraft.

Der Herr Kommandant stellte anschließend viele, viele Fragen an mich: warum sind die Einwohner geflüchtet? Warum arbeiten die Leute nicht auf dem Felde? usw. Nach etwa 2 stündiger Verneh­mung u. Verhandlung erklärte der Herr Kommandant, daß ich morgen (am 02. Mai) alle Einwohner aus der Kolonie, die nicht geflüch­tet sind, zusammenrufen soll abends 18 Uhr und im Dorf um 20 Uhr. Diese Vernehmung geschah bei Herrn Bichelbaum, selbiger war auch geflüchtet, dort hatte sich die Kommandantur eingerichtet. Es ging um den Bürgermeister. Ca. 35 Personen waren in der Kolonie anwesend, meistens ältere Leute, die jungen waren meistens ge­flüchtet. Der Herr Kommandant erklärte, worum es geht, machte längere Ausführungen. Alle anwesenden Einwohner stimmten für Ernst Gräfe. Daraufhin erklärte der Herr Kommandant mich als Bürgermeister und gab Anweisungen, was in den nächsten Tagen getan werden muß. Im Dorf verlief die Versammlung ebenso. Weil es doch immer verhältnismäßig noch sehr unruhig war, habe ich den Herrn Kommandanten gebeten, Herrn Goldfuß noch 8 Tage das Amt als Bürgermeister zu belassen. Der Kommandant wollte natürlich nicht einwilligen, weil Herr Goldfuß Nazimitglied war. Ich erklärte ihm: obwohl er in der Nazipartei gewesen ist, war er doch gegenüber den Einwohnern in jeder Beziehung Mensch. Weil mindestens noch 80 % vom Dorf auf Flucht waren, gab der Kommandant meiner Bitte statt, ich mußte aber die Bürgschaft über Herrn Goldfuß übernehmen.

Am 12.05. gab es keine Ausrede mehr. Die Einwohner waren über­wiegend zu Hause, aber ihre Viehställe waren leer.

Alle Einwohner mußten sich auf dem Dorfplatz versammeln. Der Kommandant gab Anweisungen: alle Einwohner sollen sofort die Arbeit aufnehmen. Radios sofort abgeben. Schule sofort sauber machen, Unterricht aufnehmen. Noch vieles mehr wurde mir als Bürgermeister aufgetragen u. alles sollte sofort in Angriff ge­nommen werden, aber wie? Es war nichts vorhanden, kein Papier zum Schreiben, kein Geld. Der Geldschrank lag bei Herrn Woldemar Voigt auf dem Misthaufen, kein Brot, kein Fleisch. Es hieß nun anpacken, aber wo zuerst? Damit die Einwohner was zu essen be­kommen. 

Erste Arbeit war, einige alte Genossen mit in die Arbeit einbe­ziehen. Tag und Nacht mußte Wache in Dorf u. Kolonie gestellt werden (im Dorf 3 Genossen in der Kol. 2 mit Ablösung).

Schon nach 6 Tagen am 18.05.1945 war es möglich, allen Kindern bis 6 Jahren tagl. 1/2 Liter Vollmilch zu verabreichen. Dies war vor der Hand sehr schwer, weil die Ställe der Bauern, die doch fast alle geflüchtet waren, leer waren. Die Rote Armee hatte das Vieh, damit es nicht verhungert, von diesen Bauern zusammengetrieben. Auch hier mußte die Gemeinde jeden Tag 10 Leute stellen zum Hüten.

Am 25.05.1945 war es möglich jedem Einwohner 3/4 Pfund Fleisch (375 Gramm) zu verabreichen. Wie war das möglich? Vieh war doch in Naundorf nicht vorhanden, Geld zum Kaufen von Vieh auch nicht, Mit dem Genossen Richard Gregor, welcher als Politischer Leiter eingesetzt war, selbiger war ebenfalls Tag und Nacht auf den Beinen um der Bevölkerung von Naundorf etwas zu essen zu beschaf­fen, ging ich nach Plossig um dort Vieh zum Schlachten zu kaufen. Ohne Geld kaufen war nicht einfach, wir mußten daher das Vieh schlachten und das Fleisch verkaufen, dann erst konnten wir das gekaufte Vieh bezahlen.  Weil uns die Bauern von Plossig kann­ten uns Vertrauen schenkten, haben wir das Vieh bekommen, wir konnten schlachten. Unsere Einwohner waren natürlich sprachlos, dass es möglich war, jedem Einwohner nach 14 Tagen 375 g Fleisch oder Wurst zuzuteilen.
Es ging in der Gemeinde wieder langsam vorwärts. Die Bauern kauf­ten wieder Vieh, soweit sie Geld hatten.

Im Gasthof Müller wurde eine Flüchtlingsbetreuung eingerichtet, jeder erhielt einen Teller Suppe und ca. Brot. Die Konsenven hatten wir von Prettin geholt, wo ein Kahn gestrandet war.
Der Flüchtlingsstrom war sehr groß. Viele Trecks kamen jeden Tag durch unsere Gemeinde, blieben über Nacht und am nächsten Morgen fuhren sie weiter. Unsere Gemeinde mußte 5o % im Verhältnis zur Einwohnerzahl aufnehmen, das waren ca. 500 Menschen. Diese unter zubringen war das schwerste Problem, den anderen Gemeinden ging es nicht besser.

In Prettin Lichtenburg, in der Gastwirtschaft zu Kessel, lager­te Papier. Als wir davon erfuhren, habe ich von Fleischermeister Pfennig 1 Pferd vor den Fleischerwagen gespannt, die Frau Lendin mitgenommen, weil selbige russisch sprach und den Wagen voll Schreibpapier geholt.

Der Genosse Gregor hat von Magdeburg Zucker besorgt. Wir konn­ten somit jedem Einwohner 1 1/2 Pfund (750 Gramm) Zucker geben. Die Einwohner waren hierüber erfreut. Treibstoff hatte Kollege Zimmer, Hermann besorgt. Um den Einwohnern zu helfen, mußte die Verwaltung zusehen, wo es was gab. Dies war nur möglich auf  Grund der guten Zusammenarbeit mit den fortschrittlichen Kräften innerhalb der Gemeinde und den Einwohnern, d.h. die Arbeit mit den Men­schen.

1946 war die erste Gemeindewahl. Die SED hatte überall die meisten Stimmen. Wir waren damals noch Kreis Torgau, im Jahre 1952 wurde der Kreis Jessen gebildet.
Auf Grund des Wahlergebnisses und und mit Hilfe der fortschrittlichen Kräfte in der Gemeindevertretung war es möglich mit diesen Genossen zum Wohle der Gemeinde zu arbeiten. Im Jahre 1951 wurde die zweite Dorfstraße gepflastert. Auch in der Kolonie wurde, nachdem die Dorfstraße fertiggestellt war, angefangen und ca. 100 m gepflastert.
Seitens der VdgB wurde ein Kulturraum geschaffen. Im Jahr 1951 wurde ein Kindergarten eingerichtet. Der Sportplatz wurde 1951 mit Lindenbäumen bepflanzt, desgleichen die 2. Dorfstraße und die Holzweißigstraße mit Alleebäumen.

Soweit der damals abschriftliche Zeitzeugenbericht von Ernst Gräfe, dem Bürgermeister von 1945 über die „ersten Stunden“.

BERND HOPKE
ANNABURGER ORTSCHRONIST

AnnaOffice©2024-04-05

Quelle:
Zeitzeugenbericht von Ernst Gräfe, ehemaliger Bürgermeister abschriftlich
Magda Miething; in den Unterlagen zur Chronik der Gemeinde Naundorf; 70iger Jahre, (abschriftlich B. Hopke 2024-02-15)