Pfarrer Michael Stifel (1487-1567)
Der Lochauer Pfarrer Michael Stifel widmet sich neben seiner Arbeit intensiv den Mathematikstudien. Aufgrund dessen ist er geradezu besessen von der Idee, aus Bibelstellen und abgeleitet aus der römischen Zahlensymbolik alle Geheimnisse lösen zu können. Im Jahre 1532 veröffentlicht Stifel den Extrakt seiner mathematisch-apokalyptischen Studien unter dem Titel „Ein Rechenbüchlein vom Endchrist, Apokalypsis in Apokalypsim„. In dieser Schrift verkündet Stifel den „Tag des Jüngsten Gerichts“ für Sonntag, den 19. Oktober 1533, 8.00 Uhr.
Wer war er der solches in Annaburg verkündete?
Stiefel kam in begüterten Verhältnissen 1487 in Esslingen zur Welt. Er ging zunächst an die Universität in Wittenberg, wo er einen Magister Artium machte. Im Anschluss ging er in das Augustinerkloster in Esslingen, wo er 1511 die Priesterweihe erhielt. Im Kloster kam es zu Spannungen, als er mit seiner Schrift “Von der christfermigen rechtgegründeten leer Doctoris Martini Lutheri“ 1522 hervortrat. Er lebte ganz in den Gedanken der Apokalypse. Nach seiner Kontroverse mit Thomas Murner war er nicht mehr sicher und flüchtete zu Hartmut von Kronberg nach Frankfurt am Main.
Martin Luther brachte ihn als evangelischen Prediger beim Grafen Peter Ernst I. von Mansfeld in Mansfeld unter. Dort begann er mit seinen mathematischen Studien, die ihn auf wunderliche Deutungen der Bibel führten. Dabei befasst er sich mit der Umsetzung von Buchstaben in Trigonalzahlen anhand von Texten der „Heiligen Schrift„. 1525 schickte Luther ihn auf Bitten von Christoph von Jörger nach Oberösterreich wo er einige Zeit als erster evangelischer Prediger auf dem Schlosse in Tolet unweit von Grieskirchen wirkte. Als er wieder nach Wittenberg kam, verschaffte ihm Luther das Pfarramt in Lochau im Oktober 1528. Luther führte ihn dort persönlich ein und da er sich auch um die Witwe seines Vorgängers, Frau Günther kümmerte – wurden sie beide sogleich getraute.
Als Stifel das Amt übernimmt und zugleich die Witwe seines Vorgängers heiratet, ist er bereits 41 Jahre alt. In Lochau verkündete er am Neujahrsabend 1533 von der Kanzel herab die furchtbare Botschaft des bevorstehenden Weltunterganges. Die Folge war, dass jeder Bürger nur noch diesem Ziele lebte, nicht mehr arbeitete und den Acker brach liegen ließ.
Annaburg wurde zum Wallfahrtsort, wo sich jeder auf das „jüngste Gericht“ vorzubereiten gedachte. Die kleine Stadt glich einem Ameisenhaufen, darunter viel lichtscheues, bettelndes Gesindel, das hier auch Gehör und Gegengabe fand. Stifel ging mit gutem Beispiel voran und verschenkte seine Bücher, ohne darüber nachzudenken, dass auch der Beschenkte keinen Nutzen mehr hatte.
Einige beförderten sich selbst zu Tode. Der Tagelöhner Balthasar Wiebe und der Cossät Claus Barthel zündeten ihre Häuser selbst an, um sich von allem dem Seelenheil hinderlichen Besitz loszusagen und bis zum jüngsten Tag im Oktober nur der Buße und der inneren Einkehr leben zu können. Der Ratsschreiber machte sich bei Nacht und Nebel mit dem Inhalt des Stadtgeldkastens auf und davon.
Die beiden Wirtshäuser, der „Schwäre Bär“ und das „Goldene Lamm“ wurden von Stunde ab nicht mehr leer. Die Wirte hielten selbst mit, rechneten letztlich keine Zeche mehr an.
Luther mahnt und warnt Stifel vor seinem Irrglauben, auch von kurfürstlicher Seite wird ihm Schweigen auferlegt. Zu spät, längst ist die Kunde vom Weltuntergang durch Kursachsen bis nach Schlesien gedrungen. Von nah und fern reisten die Gläubigen in Erwartung des großen Tages gen Lochau. Der Ort wimmelte nur so von Menschen.
„Reihenweise waren die Wagen aufgefahren, leichte sächsische Rollwagen, schwere Leiterwagen, auch eine ganze Anzahl von Karossen, an deren Türen adelige Wappen erglänzten. Alles war schwarz von Menschen. Sie standen in Gruppen aufgeregt schwatzend beieinander oder saßen auf ihren Wagen oder hatten Strohbündel herbeigeschafft und sich darauf niedergelassen. An verschiedenen Stellen brannten große Feuer, an denen gekocht und gebraten wurde, und es war gut, daß die Luft windstill war, denn sonst wären die Schindeldächer der Häuser, die der Kirche und den steinernen Klostergebäuden gegenüberlagen, sehr in Gefahr gewesen. Hier und da erscholl ein lautes Geschrei und Lärmen, und es schien, als sollten sich verschiedene Prügeleien entwickeln. Das war wohl der Wirkung des Bieres zuzuschreiben, das in großen Fässern vor der Marktschenke zum schwarzen Hirsch ausgeschenkt wurde."
Alle Warnungen schlugen fehl. Diesem Treiben folgte das Predigtverbot für Stifel.
„Die Nacht, die dem Kommen des jüngsten Tages voraufgehen sollte, hatte sich schwarz und finster auf das Dorf Lochau herabgesenkt. Der Mond war nicht sichtbar und kein Sternlein funkelte am Himmel, denn von drei Seiten her waren schwere Gewitterwolken herangezogen. Unaufhörlich rollte der Donner in der Ferne, und ein Wetterleuchten folgte dem anderen. Dabei war die Luft vollkommen windstill, nicht der leiseste Windhauch regte sich, und es herrschte eine bleierne Schwüle, die ganz ungewöhnlich war in dieser Jahreszeit. Die fiebernde Unruhe, von der die Menge der Gläubigen erfüllt war, wurde dadurch aufs Höchste gesteigert."
Am Morgen des „Jüngsten Tages“ ertönte das Hörn des Viehhirten. Stifel ließ das Vieh aus dem Ort treiben, da es nach Verkündigung des Propheten zuerst sterben müsse und die Einwohner dadurch nicht erschreckt werden sollten. Kurz darauf strömten die Gläubigen nach der Kirche.
Stifel fühlte sich nicht mehr an das Predigtverbot gebunden. Er bestieg die Kanzel, um alles Volk, das aus Böhmen, Schlesien und aus der Lausitz nach Lochau gewallfahrtet war, auf die letzte Stunde vorzubereiten. Der Tag war jung und schön angebrochen, Stifels Predigt schloss mit den Worten: ,,Der Herr wird kommen, kommen, kommen“ – Alles wartet, aber der Weltuntergang trat zur großen Enttäuschung Stifels nicht ein.
– Nichts geschah. –
Nur eine Stunde später waren die kurfürstlichen Reiter von Wittenberg heran und nahmen Stifel vor der zu arg enttäuschten Menschenmenge in Haft. In Wittenberg erhält er einen vierwöchigen Hausarrest, der wohl mehr als Schutzhaft zu verstehen ist. Die unheilvollen Ereignisse von Lochau haben Stifel ein Leben lang begleitet. Noch Jahrhunderte später erinnerten nicht nur die Studenten von Wittenberg und Jena in dem Spottlied „Stifel muss sterben, ist noch so jung . . .“ an die missglückte Prophezeiung.
Stiefele muss sterben ist noch so jung, jung, jung Stiefele muss sterben ist noch so jung Wenn das der Absatz wüsst dass Stiefel sterben müsst Stiefele muss sterben ist noch so jung.
Erläuterungen
Altes Trinklied, daß beim Leeren des “Stiefel” gesungen bzw. gegrölt wird. (Der Stiefel oder Goaßmaßstiefel ist ein stiefelförmiges Bierglas mit bis zu fünf Litern Inhalt, wird meist reihum gereicht. Dazu sind diverse Trinkrituale vor allem in den Burschenschaften verbreitet).
Interessant ist auch, wie Stifel den Weltuntergang berechnet hatte. Dabei hatte er sich auf die so genannte Wortrechnung bezogen. Er hat den Buchstaben aus der Bibel Dreieckszahlen zugeordnet oder auch in geeigneten Texten aus der Bibel diejenigen Buchstaben, die als römische Zahlen verwendet wurden, durch diese Zahlen ersetzt (also I durch 1, V durch 5, X durch 10, L durch 50, C durch 100, D durch 500 und M durch 1000) und dann (z.B.) addiert; dabei hat er U und V (und Y?) nicht unterschieden, wie damals noch üblich. Der durchschlagende Misserfolg mit der Wortrechnung hat Stifel nicht davon abgebracht, sich weiterhin mit Mathematik zu beschäftigen. Zu seinen mathematischen Spielereien gehörten später die Entdeckung der Stifelschen magischen Quadrate, 5 5-magische Quadrate, deren zentrales 3 3-Quadrat wieder magisch ist.
Wie ging es weiter – so wie heute auch – meist weiter voran – nach oben?!
Luther blieb sein Freund und erwirkte beim Kurfürsten, dass der ungeheuerliche Schaden, den Stifel durch seine falsche Prophezeiung angerichtet hatte, aus der kurfürstlichen Amtskasse gedeckt wurde. Ja noch mehr, er führte in wieder in Holzdorf bei Herzberg schon Ende 1534 oder Anfang 1535 in sein Amt als Pfarrer ein. Stifel hatte Versprechungen ablegen müssen, nie mehr als Prophet auftreten zu wollen.
Während seiner Holzdorfer Amtszeit entstand dann seine „arithmetica integra“ die 1540 abgeschlossen wurde und 1544 in Nürnberg gedruckt erschien. Jenes Buch, das den Vorläufer unserer heutigen Logarithmen-Tafeln darstellt. Und dies ist sein großer Verdienst.
Stifels weitere Lebensstationen führten ihn von den Pfarrstellen in Holzdorf über Memel (1549), Eichholz (1550), Hafestrom b. Königsberg (1551), Brück (1554) schließlich im Jahre 1559 nach Jena. Dort ist er erster Professor der Mathematik an der jungen Universität Jena (gegr. 1553). Noch zehn Jahre konnte er als Mathematikprofessor wirken.
Ungeachtet seiner Verdienste um die Mathematik verfolgte ihn sein Ruf als „Verkünder des Weltuntergangs“ und auch das Stifellied bis Jena Betrat Professor Stifel ein Wirtshaus, wurde er mit diesem Lied empfangen. Er setzte ein Verbot des Liedes durch. Zum Ausgleich dafür tranken die Studenten Jenas reihum ihr Bier aus einem Stiefel, den sie dafür anfertigen ließen. Auch heute noch ist in unserer Gegend das Stiefeltrinken ein alter Brauch und das Lied des Professors ist hier noch gut bekannt.
Michael Stifel starb 1567 in Jena.
Bei allen Fehlschlägen und Irrwegen leistete Michael Stifel Grundlegendes auf dem mathematischen Fachgebiet. Er gilt heute allgemein als Mitbegründer der Logarithmen und größter deutscher Algebraiker des 16. Jahrhunderts.
Bernd Hopke
Ortschronist
AnnaOffice©2020-12-29
Quellen Schreckenbach, Paul: Der jüngste Tag. C. F. Amelangs Verlag, Leipzig 1922 Verein f. Heimatgeschichte u. Denkmalpflege Annaburg (Hrsg.) Jagdschloß Annaburg - Eine geschichtliche Wanderung, Horb/Neckar 1994; Allgemeine Deutsche Biographie, Band 36 Seite 208 Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Band 19 Seite 24 Band 24 Seite 529 Bossert: Luther und Württemberg. Ludwigsburg 1883. Giesing: Stiefels Arithmetica integra. Döbeln 1879. Gustav Kawerau: Thomas Murner und die deutsche Reformation. Halle 1891. Clemen. Beiträge zur Lutherforschung (Zeitschrift für Kirchengeschichte 26, 1905, 395ff.). Guddas: Michael Stifel Luthers Freund, genialer Mathematiker und Pfarrer im Herzogtum Preußen (Schriften der Synodalkommission f. ostpreußische Kirchengeschichte), Königsberg 1922 Dr. K. Reichard (Hrsg), Im neuen Reich, Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst; 6 Jahrgang, 1876; 1.Band, Leipzig 1876 Bode, Helmut: Kronberg im Taunus; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.1980, S. 31
Bemerkung: der Name "Stifel" wird in der Fachliteratur sowie mit "i" oder mit "ie" geschrieben. Da es im 16.Jh noch keinen "Duden" gab sind beide Schreibweisen richtig, da man schrieb wie man sprach