Soldaten in Annaburg

1945 die Wehrmacht in Annaburg

ein Augenzeugenbericht 

Diese Schrift handelt von den Erlebnissen Franz Brettmann als ein 16-jähriger Kriegsverpflichteter der die Kriegsereignisse 1945 in unserer Gegend erlebt hat.

Franz Brettmann wurde mit seinem Jahrgang als ehemaliger RAD-Angehöriger zur 12. Armee einberufen. Mit einem Militärzug kam er aus den Lübecker Raum am 08.04.1945 in Jessen an.

„Ohne besondere Vorkommnisse kamen wir über Tangerhütte, Magdeburg, Roßlau, Coswig, Wittenberg im Bahnhofsgelände der Kreisstadt Jessen /„Schwarze Elster" an. Erneutes Kommando „Alle Mann mit dem Marschgepäck antreten!" Alles bemächtigte sich seiner Ausrüstung und verließ die Waggons. Die Spannung stieg mal wieder, weil keiner wusste wohin es eigentlichen gehen sollte. Mit den wieder üblichen Kommandos: "Stillgestanden. Rechts um! Im Gleichschritt marsch", setzte die Truppe sich in Bewegung.
Während wir in Jessen noch im Gleichschritt marschierten, kam aber außerhalb der Stadt das Kommando: „Ohne Tritt marsch", wobei wir den Gleichschritt mal vergessen konnten, zumal es für mich als Kleinsten der Kolonne schon schwer genug war mit den „langen Kerls" Schritt zu halten.
Allmählich sickerte auch durch, dass wir Schweinitz erreichen wollten, um dort Quartier zu nehmen. Also ging es der Reichsstraße 187 entlang nach Süden bis zu dem 4 bis5 km entfernten Städtchen an der Elster. Der Tag neigte sich dem Abend zu. Es war inzwischen etwa 18 Uhr geworden und die Unterbringung in Schweinitz würde wohl auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis man die „müden Knochen" endlich mal lang machen konnte. In Schweinitz galt wieder der Gleichschritt, um bei den Einwohnern den Eindruck einer intakten Truppe zu machen. Aber in Anbetracht unserer mangelhaften Ausrüstung wird sich wohl mancher sein Teil gedacht haben und nur auf die „Wunderwaffen" des Führers vertraut haben.
Auf dem Marktplatz stieß unsere Marschkolonne auf dort schon anwesende andere Einheiten der Infanterie, denn nur um solche konnte es sich handeln, denn schwerere Waffen waren nicht zu sehen. Diese Einheiten wurden hier noch festgehalten, um eine der üblichen Durchhaltereden eines hohen Offiziers anzuhören. Es könnten General-Leutnant Engel gewesen sein. Er erklärte uns den Kampfauftrag unserer Kompanien und appellierte an den unbedingten Einsatzwillen für das Vaterland. Seine Wortwahl kam mir merkwürdig vor, weil ich vermutete, dass er mit im Offizierskorps vorhandene Fanatiker rechnen musste. Weiter teilte er den angetretenen Kompanien mit, dass sie ab sofort zur Division „Ulrich von Hutten" gehörten. Ebenso wie die neu aufgestellten Divisionen „Scharnhorst", „Jahn", „Körner" und „Gneisenau" wurden diese der 12. Armee "Wenck" unterstellt. 
Endlich hieß es: „Abmarsch ins Quartier!" Für mich selbst war es die höchste Zeit zur Ruhe zu kommen, weil sich schon während der Bahnfahrt eine Mandelentzündung ankündigte, die ich hoffte bis zum kommenden Morgen überwunden zu haben. Mit etwa 60 bis 70 Mann wurden wir in einem Tanzsaal einer Gaststätte untergebracht. Stroh war ausgelegt worden, und so machten wir es uns nach dem Verpflegungsempfang, so gut es eben ging, bequem. Obwohl ich wirklich „Kohldampf“ hatte, konnte ich zwar nicht mit „Tränen" aber nur unter Schmerzen die harte Brotverpflegung, wegen der jetzt stark geschwollenen Mandeln, essen. Am kommenden morgen, dem 9. April, nach dem Wecken, waren meine Schluckbeschwerden so groß, womit ich gezwungen war die Krankenstation aufzusuchen. 
Der dort anwesende Feldarzt untersuchte meine Rachenhöhle und stellte fest, dass ich zumindest kein Simulant war. „Junge, Junge, das sieht ja gar nicht gut aus", äußerte er sich. „Unteroffizier suchen sie für den Mann sofort ein Quartier, der gehört ins Bett!" Und so wurde ich bei der Familie Heckendorf in einem Bett im Wohnzimmer untergebracht, wo ich mich sofort wie in „Abrahams Schoß" fühlte. Das hinzu gekommene Fieber machte sich durch Schüttelfrost bemerkbar und klang erst allmählich ab. Zunächst hatten Heckendorfs Ängste in Bezug auf eine evtl. Diphtherie bei mir, die aber durch den mich besuchenden Feldarzt zerstreut wurden. Dank der fürsorglichen Pflege, durch fast alle anwesenden Familienmitglieder, insbesondere der Großmutter, ging es mir am folgenden Tag, dem 10. April schon wesentlich besser. Auf strikte Anweisung der Großmutter hatte ich in bestimmten Abständen mit Kamillentee zu gurgeln und auch den heißen Glühwein zu trinken. Bis über den Mittag des 11. April ließ man mich noch in Ruhe. Einer der Unteroffizier hatte mich mehrmals besucht um festzustellen, ob ich wohl wieder einsatzfähig, sprich „kv“ (Kriegsverwendungsfähig) , sei. Mir ging es wieder gut, und ich war schon gespannt, wann der Marschbefehl wohl erfolgen würde. Der ließ nicht lange auf sich warten, denn mit polterndem Geräusch von „Knobelbechern" kam ein Unteroffizier die Treppe herauf ins Zimmer. „Na Brettmann, dir geht's widergut, wie ich sehe". „Also fertig machen! Es wird abmarschiert. Du bekommst noch einen Kameraden dazu und dann macht Ihr beiden Euch auf den Marsch nach Annaburg". „Die übrige Einheit ist gestern schon abgezogen. Meldet Euch dort bei einem Unteroffizier Schlothmann!" „Verstanden?" „Jawohl, Herr Unteroffizier" und damit war das schöne Leben bei Heckendorfs zu Ende.
Erfreut war ich, dass es Uwe Frahm war mit dem ich nach Annaburg marschieren sollte. Warum auch er noch in Schweinitz geblieben war, kann ebenfalls an einer Erkrankung gelegen haben. Denn so kräftig er auch gebaut war, so hatte er doch Probleme mit der Lunge oder den Bronchien. 
Es war schon spät nachmittags als wir uns auf den Weg machten. Nach Annaburg waren es etwa 7 km, die wir noch bis zum Abend schaffen, wollten. Aber wir überlegten es uns anders, weil es schon spät und dunkel wurde. In dem kleinen Ort Purzien gingen wir gleich auf das erste Gehöft auf der linken Dorfstraßenseite. Wir baten dort um die Erlaubnis in der Scheune übernachten zu dürfen. „Ja! Ihr könnt hier übernachten. Haut euch man ins Stroh, dann ist es auch warm genug", wurde uns beschieden. „Aber auf keinen Fall dort rauchen!" wurden wir außerdem gewarnt, was uns Nichtrauchern nicht schwer fiel. Uwe und ich machten es uns bequem und wir begannen unsere Marschverpflegung zu verzehren. Dabei sprachen wir darüber was uns wohl in Annaburg erwarten würde. Wohin es denn überhaupt wohl gehen sollte. Der Mangel an genauerer Information durch unsere Vorgesetzten machte uns zu schaffen. Keine Zeitung, kaum Radio, ließ uns allmählich orientierungslos werden. Wir lebten also nur noch in den Tag hinein in Erwartung des Unbekannten, das auf uns zukommen würde. Wir redeten bis wir irgendwann müde in den Schlaf fielen.
Wir hatten schon eine Zeitlang geschlafen als plötzlich lautes Motorengebrumm alliierter Bomber uns weckte. „Mein Gott! Nun geht auch das noch los", dachte ich aufgeschreckt. Auch Uwe war wach und stellte Vermutungen an gegen welche Stadt es wohl diesmal gehen würde. Im Nachhinein stellte es sich heraus, dass es mal wieder ein schwerer Angriff auf das mitteldeutsche Industriegebiet, diesmal die Stadt Leipzig, war. Die Alliierten versuchten damit die deutsche Treibstoffproduktion lahm zu legen, was ihnen auch gelang. Der Lärm der Detonationen durch Bomben und Flak konnte nur das Schlimmste ahnen lassen. Irgendwann war dieser Angriff vorbei, wir beruhigten uns wieder und schliefen ein.
Am folgenden Morgen, Donnerstag, dem 12. April, nach einem Kommisbrotfrühstück machten wir uns wieder auf den Weg Richtung Annaburg. Im Laufe des Vormittags legten wir die etwa 4 km zurück, und erreichten das Jagd-Schloss Annaburg.
Dieses war voller Wehrmachtangehöriger, die hier auf die verschiedenen Kompanien, Züge und Gruppen verteilt wurden. Jeder fand seine Gruppe und seinen Unteroffizier, wobei wir die „alten Kameraden" aus Lübeck wieder fanden. Unsere Übernachtung in Purzien war nicht ganz legal, um nicht zu sagen „Entfernung von der Truppe". „Mensch! Wo ward ihr denn so lange?" pfiff uns unser neuer Unteroffizier erst mal an. „Ich hab euch gestern Abend schon erwartet! Aber gut, jetzt seid ihr da und meine Gruppe ist vollzählig. Sucht euch eine Bleibe bei den Anderen und bleibt zusammen, damit ich euch jederzeit wieder finde". „Übrigens, mein Name ist Schlothmann. Ich bin Euer neuer Gruppenführer" So, nun hatten wir endlich mal wieder einen Chef. Er machte auf uns einen vertrauenswürdigen Eindruck, war Frontkämpfer und würde versuchen uns unerfahrene Neulinge vor übertriebenen Heldentaten zu bewahren, was er später auch tat. Dass er aus Bremen, meiner näheren Heimat kam, war mir natürlich sehr sympathisch.
Hier in Annaburg bekamen wir neue gefleckte Tarnjacken mit Kapuze. Weiter wurden auf die Gruppen je 4 Panzerschreck, auch „Ofenrohr" genannt, wegen seiner Ähnlichkeit damit, verteilt. Auch ich musste mich mit einer dieser Waffen abschleppen, was während des späteren Vormarsches verdammt lästig wurde. Ich dachte nur noch: „Immer auf die Kleinen", und wartete darauf, dass mir einer meiner Kameraden das „Ding" 'mal eine Zeitlang abnahm. Über weitere Waffen verfügten wir nicht. Was ich im Schloss zum ersten Mal sah, war die stufenlose gepflasterte Wendeltreppe, die Kennern wohl bekannt war. Diese Konstruktion ermöglichte es vom Parterre in die oberen Etagen zu reiten. Ich fand das als Bauwerk interessant, aber spleenig als Idee. Die früheren Schlossbewohner mussten wohl zu faul zum Treppensteigen gewesen sein. Uns Soldaten kam diese Bequemlichkeit entgegen, weil damit der Transport von Waffen und Gepäck natürlich erleichtert wurde. Nur manchmal verliefen wir uns, weil alles gleich aussah innerhalb der Stockwerke, und fanden uns bei unbekannten Gruppen wieder. Da wir im Laufe des Nachmittags nichts zu tun hatten, wurde irgendeine Beschäftigung gesucht, und wenn es das Baden hinter dem Schloss in einem Teich war. Treptow und Reminsberger, beide Hamburger und meine Gruppenkameraden, zogen sich nackt aus und sprangen in das kalte Wasser. Ich staunte nur, denn mit Baden im kalten Wasser hatte ich nichts im Sinn. Es waren auch nur diese beiden Abgehärteten, die dieses zweifelhafte Vergnügen wahrnahmen. So verging die Zeit. Es wurde Abend und alles suchte sich einen Platz zum Schlafen in der Annahme, dass noch nichts passieren würde. Nach Mitternacht, man hatte ein bisschen geschlafen, was bei der Unruhe im ganzen Schloss nur schwer möglich war, wurde lauthals geweckt und zum Fertigmachen befohlen.

„So Jungs, es geht los", forderte unser Unteroffizier Schlothmann uns zum aufstehen auf. Jeder suchte seine Sachen zusammen und begab sich auf den Schlosshof zum Antreten. Wir fanden uns dann wieder Zugweise in Bataillonsstärke angetreten. „Zur Meldung an den Herrn Bataillonskommandeur die Augen links!" das Kommando des kommandierender Offzs. Die Köpfe ruckten nach links. „Melde Herrn Hauptmann 1. Bataillon des I. Grenadierregiments vollzählig und marschbereit angetreten" Hauptmann Meyer dankte und erläuterte dem Bataillon, dass das l. Grenadierregiment der Division „Ulrich von Hutten" unterstellt sei und dass heute Nacht Richtung Elbe abmarschiert werde. Wohin genau wurde aber noch nicht gesagt. Also wieder: „Stillgestanden! Rechts um! Ohne Tritt marsch!" So verließ unsere Einheit noch im Dunkeln am Freitag, dem 13. April Annaburg. 
Über Groß-Naundorf, Plossig und Axien näherten wir uns in flottem Marschtempo der Elbe und dem Fährübergang bei Pretzsch. Diese Distanz dürfte etwa 17 km, und bei gutem Schuhwerk kein Problem, gewesen sein. Allmählich graute der Morgen, wir waren schon etwa 2 bis 3 Stunden unterwegs, als wir die Straße Jessen-Pretzsch erreichten. Einige Kameraden hatten mit ihren Knobelbechern doch Probleme und sich die ersten Blasen gelaufen. Um die Mittagszeit kam unser Bataillon an der Fährstelle bei Pretzsch an. Der Himmel war bedeckt, und hielt uns die Jabos vom Halse. Jedenfalls ging bis hierhin alles gut, und das Übersetzen mit der Fähre nahm seinen organisierten Verlauf. Auf der Westseite angekommen nahm die ganze Einheit wieder Aufstellung und setzte den Marsch Richtung Bad Schmiedeberg fort. Rechts von uns kam das Städtchen Pretzsch mit seinem Schloss in Sicht, dass wir ohne Halt durchquerten. 3 km etwa waren es bis Bad Schmiedeberg, das wir um die Mittagszeit erreichten. Ohne Halt ging es weiter durch die Stadt, wobei wir von den Passanten mit Neugierde und Skepsis bestaunt wurden.
Die Bevölkerung sah ja, dass wir ohne jedes schwere Gerät, sprich Panzer und Artillerie, den Amerikanern entgegenzogen. Unser Tross fuhr mit Pferdegespannen, kleinen so genannten Panjewagen auf denen sich die Versorgungsgüter und Munition befanden. Die Landwirte aus unseren Gruppen wurden zu Gespannführern, weil sie mit Pferden umgehen konnten. LKW gab es nur vereinzelt, genau wie Militär-PKW. Die meisten von uns hatten in Annaburg weder Karabiner, Maschinenpistole noch einen Stahlhelm bekommen. Womit wir kämpfen sollten blieb zu nächst noch ein Rätsel. Aber vielleicht erwartete uns ja in der Nähe des Einsatzortes eine bessere Ausrüstung.
Hinter Bad Schmiedeberg verließen wir die Straße und bogen ab in die Kiefernwälder der „Dübener Heide". Es ging jetzt über Waldwege weiter Richtung Westen, bis wir gegen Abend ein Forsthaus erreichten, das von Tannenschonungen umgeben war und eine gute Deckung gegen Feindeinsicht von oben bot. Dieses Forsthaus schien ein Gefechtsstand zu sein, denn es gab ein reges Kommen und Gehen von Meldern und Ordonnanzen. „Aaabteilung, halt! Liiinks um! Alle mal herhören!" kommandierte der führende Offizier und wir stellten unsere „Lauscher" auf „Empfang".
Alle suchen sich in der Schonung einen Lagerplatz! Jeder gräbt sich ein Deckungsloch! Es wird kalt werden heute Nacht, also legt Euch Tannenzweige und Laub unter. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht". „Nach dem Wegtreten zum Verpflegungsempfang aufstellen! Noch weitere Fragen? Alles klar? Also dann, weggetreten und gute Nacht!" Damit war für heute „Feierabend". So suchten auch Uwe, der neben mir den ganzen Tag marschiert war und ich eine passende Stelle, um unser Deckungsloch zu graben.“ 

Am Sonntag, den 15. April 1945, ging es weiter in Richtung Mulde. Bei Krina wurde die Truppe von amerikanischen Tieffliegern angegriffen, es gab erste Toten (drei) und Verletzte. In Plodda erfolgte ein Übungsschießen (das einzige vor dem Kampf) mit der Panzerfaust.
Das 1. Bataillon des I. Grenadierregiments der Division „von Hutten“ als Teil der „12. Armee Wenck“ sollte gegen die 9. US-Armee jenseits der Mulde eingesetzt werden. Die Autobahn Berlin – Leipzig sollte Hauptkampflinie, damit das weitere vordringen der 3. US-Panzerdivision zwischen den RAB – Anschlüssen Wölfen und Dessau-Süd gestoppt werden.
Von Plodda ging es deshalb über Altjeßnitz nach Thurland. Dort hatte die frisch aufgestellte Einheit ihr erstes Gefecht (Nacht vom 16.04.-17.04.1945) zu bestehen. Dabei wurde Franz Brettmann verletzt. Auf dem Weg zum Sani-Punkt geriet er bei Raguhn am 17.04.1945 in amerikanische Gefangenschaft durch das 83. Aufklärungsbataillons der 9. US-Armee.

Bernd Hopke
Ortschronist

AnnaOffice©2008-10-20

 

Annaburg©2008

Quelle
Franz Brettmann , „April 45 – Kämpfe an der Mulde – Erinnerungen eines damals 16-Jährigen“