Anna Brieß

… kann alles!

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Geschichte aus dem Jahre 1719

Anna Brieß kann alles!“ So ging das Gerede oftmals auf dem Markte und in den Häusern. Selbst im Schloss tuschelte man darüber, dass die Anna etwas verstehe von Dingen, die sonst einem gewöhnlichen Sterblichen ewig fremd blieben. Heimlich huschten sie zu ihr hinaus, zum letzten Häuschen am Waldrande, um ein Mittelchen zu holen, wider die Trunksucht des Mannes, gegen Mückenstiche oder Hauptweh. Und immer fand sie das Rechte, immer wusste sie zu raten und zu helfen, immer konnte man zufrieden sein mit ihr, mit der alten, glutäugigen Mutter Brieß.

Und doch wollte keiner Freundschaft halten mit ihr und der rothaarigen Susanne, ihrem angejahrten Töchterlein.

Es war als sei da eine Zauberei im Spiele, wenn sie seltsame Sprüchlein murmelte, um eine Wunde zu heilen, um Blutfluss zu stillen oder Warzen zu vertreiben. Das ging alles nicht mit rechten Dingen zu bei ihr. Das wollte man ganz bestimmt wissen. Einmal, kurz nachdem ihr Mann, der kreuzbrave Holzfäller, plötzlich verstorben war, ging sogar das Reden um ein Gift, das sie ihm beigegeben.

Allein keiner wagte öffentlich etwas wider sie zu sprechen. Man brauchte sie und man fürchtete sie, obwohl sie als eine der Ärmsten in Annaburg galt. Ja, das Geheim tun, das Tuscheln und Murmeln, das konnte die alten Annaburger zuweilen ganz aus dem Häuschen bringen. Da vermochten sie stundenlang zu erzählen, von Geistern und Drachen, von Gespenstern und Teufeln, von Hexen und anderen wundersamen Dingen. Das alles musste sich bei Mutter Brieß finden, anders war es gar nicht auszudenken.

Wie sollte es aber auch mit rechten Dingen zugehen, dass sie, eine alte Frau, mehr verstand von Siechtum und Wehtag als der Chirurgus und der Bader? Wenn die beiden erst mit kurieren anfingen, dann war’s bald aus mit dem Kranken. Nein, da ging man dann doch lieber zur Mutter Brieß, die alles konnte und die immer das rechte Mittel fand.

Zu einem gewissen Wohlstand kam die Alte aber dennoch nicht, obwohl die Leute bald davon sprachen und wissen wollten, dass Mutter Brieß im Keller eine große Truhe voll Goldstücke stehen habe. Dazu war sie viel zu gutmütig und freigebig, das Sparen verstand sie nicht; da musste immer alles verteilt und vergeben werden, was sie einnahm in ihren Sprechstunden.

Wozu auch das bisschen Geld aufheben? Mitnehmen konnte sie es später einmal nicht, und um eine Aussteuer für die Susanne brauchte sie nun wohl kaum mehr Sorge zu tragen? Da klopfte sicher keiner mehr an? Sie selbst hätte den Kühnen auch bedauert, der es gewagt hätte, die Susanne zu freien. Von Stund an wäre er für diese Welt fertig gewesen. Denn, was die Tochter der alten Mutter bereits an Grobheiten und bösen Worten sagte, das bekam sicher einmal auch der Mann in doppelter Portion täglich zu hören. Und darauf verzichtet wohl jeder ehrsame Bewerber. Außerdem war sie, wie bereits erwähnt, alles andere als eine Schönheit, obwohl sie selbst voll davon überzeugt war.

Im Hornung des genannten Jahres wurde Susanne plötzlich krank. Das war ein eigentümliches Leiden, bei dem sich selbst Mutter Brieß nicht recht zu helfen wusste.

Erst versuchte sie es mit allerlei Kräutern und zusammengebrautem Tee, dann mit Versprechen und Segensworten, zuletzt gar mit dem Auflegen von Kuhmist, was die Susanne durchaus nicht hübscher erscheinen ließ, aber nichts half.

Immer mehr fiel ihr altjüngferliches Töchterlein zusammen, immer schwächer wurde ihr Atem und Schlaf konnte sie schon gar nicht mehr finden. Da kriegte es Mutter Brieß mit der Angst zu tun und was sie ihr Lebtag nicht getan, unternahm sie jetzt, sie ging zum Bader am Mühltore, um dessen Hilfe zu erbitten.

Der lachte nur. „Mutter Brieß kann alles!“ Das fiel ihm gar nicht ein, der alten Hexe zu folgen. Erst schnappte sie ihm die Kunden weg und nun, wo es ernst wurde, kam sie angekrochen?

„Geht heim und zaubert Euch ebbes zurecht. Ich hab nichts zu tun damit. Ihr seid ansonsten doch so klug, die Leute sagen es ja allweil: Mutter Brieß kann alles; dann künnt Ihr auch der Susanne ein Trünklein brauen, dass sie gesund wird und schön dazu. Nötig tat sie das längst haben!“

Das war grob gesprochen. Mutter Brieß zuckte die Achseln und trat hinaus. Es galt dem Leben ihres Kindes. Wenn auch die Susanne zuweilen böse daher sprach und gar schon nach ihr geschlagen hatte, es war ihr Kind. Sterben durfte sie noch nicht.

Da brachte ihr die Mutterliebe den Plan, auch noch den Herrn Chirurgus aufzusuchen und zu befragen. Vielleicht war er doch klüger als sie bisher von ihm gedacht hatte. Gleicher Empfang wie beim Bader wurde ihr zuteil. Polternd und grob warf sie der sonst so stille, nachdenkliche Medikus hinaus. „Mutter Brieß kann alles„, schrie er hinter ihr her, „dann helft Euch nur! Tut der Susanne Fliegengift auf den Schädel, vielleicht dass sie dann noch einmal jung und hübsch werden wird!“ Mutter Brieß stapfte davon. Bekümmert, versorgt, beleidigt. Als sie heimkam, fand sie die Susanne noch leidender auf. Das brachte sie fast zur Verzweiflung. Noch einmal versuchte sie es mit den allerbesten Sprüchen und Gebeten, noch einmal braute sie vielerlei Kräuter zusammen, ihrem Kinde zu helfen, aber es wollte keine Besserung eintreten.

Seltsam, anderen hatte sie Rettung bringen können, beim eigenen Fleisch und Blut wollte nichts fruchten!

In ihrer Verzweiflung schrie sie hell auf. Plötzlich war es ihr als höre sie wieder die spottende Rede des Chirurgen: „Tut ihr Fliegengift auf den Schädel!“

Vielleicht war das kein Scherz gewesen? Das konnte doch das rechte Mittel sein für die Fieberschauer, die den Körper der Siechen durchrasten. Wie, wenn sie es einmal versuchte?

Jetzt war ihr alles recht, wenn es nur half. Sie kramte in der Küche nach dem kleinen Päckchen, fand es auch bald und kam damit in die Kammer geschlurft.

Susanne warf sich hin und her. Da nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und hielt das Mädchen eisern fest und drückte ihr das aufgeweichte Fliegengift auf den Kopf. Dabei murmelte sie alle Sprüche, die sie jemals gelernt hatte. Solche, die gute Wirkung haben sollten und solche, die gar nicht hier her passten. Sie drückte und rieb und hörte nicht auf die angstvollen Schreie des Mädchens. Das tat sie bis ihr selbst die Arme weh taten und sie selbst erschlafft niedersank.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war die Susanne sehr still.

Es wird geholfen haben„, dachte sie und schlürfte hinüber zum Lager der Tochter. Dann brach sie fast zusammen. Susanne war tot.

Ob sie, wie es aufgeschrieben ist, vom Fliegengift gestorben oder ob sie auch sonst hätte heimgehen müssen, ist heute nicht mehr festzustellen.

Von Mutter Brieß ging aber fortan nicht mehr das Wort durch Annaburg: „Sie kann alles.“ Die Kundschaft verzog sich nach diesem Beweis ihres Könnens sehr bald und das war nur richtig so. Denn heilen soll nur, wer es wirklich gelernt hat und wenn der Herr Gott einmal ruft, dann kann keiner helfen, selbst nicht eine Mutter Brieß mit dem Fliegengift.

 

 

Edwin Kretzschmann

 

Veröffentlicht im Amtsblatt der VG Annaburg-Prettin Nr.9 von 2006

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