wohin flüchten?

1945 Annaburger Flucht


„Anfang 1945 hoffte jeder so innig, der grausame Krieg möge bald zu Ende sein. Wir wussten ja nicht einmal, was Frieden heißt. Es gab mehr Fliegeralarm, und wir mussten oft in den Keller rennen. Am schlimmsten waren die Tiefflieger, die auf alles schossen, was sich bewegte. Auch auf Bauern, die auf dem Feld arbeiteten, und sogar auf kleine Kinder. Gasmasken mussten aufgesetzt werden. Ich fürchtete mich dann sogar vor meiner eigenen Mutter, sie sah aus wie eine Wölfin. Am 20. April gab es eine schwere Bombardierung und ein weiterer Angriff wurde angekündigt. „Alles raus", hieß die Parole von Kampfkommandant Forstmeister Demuth. Noch mehr Angst breitete sich aus. Tante Maria, verheiratet mit Onkel Otto, der im Krieg war, wohnte seit einem Jahr bei uns mit ihrer Ursula. In Dresden, wo sie eine Wohnung hatten, war es zu gefährlich. In Eile wurde Nötiges und Unnötiges zusammengepackt. Und ich weiß noch, dass unsere Mütter sogar noch das Mehl verbackten zu einfachen Plätzchen als Proviant. Die kamen in einen großen weißen Sack. Der Kinderwagen wurde mit allem beladen.
Obendrauf kam mein kleiner Bruder, der selig schlief, als die ganze große Familie mit Planwagen vor den einmarschierenden Russen in den Wald flüchtete. Viele Nachbarn schlossen sich an und zogen mit Handwagen und Kinderwagen hinterher. Es sollte zum Lebiner rausgehen. Doch auch diese Straße war kaputt. So endete der Treck nachts um zwei Uhr in der Nähe des Franzosenwinkels, und es gab Panzeralarm. Onkel Willi war der Wortführer. Er meinte, die Russen sind ja da! Wohin wollen wir noch? Also kehren wir doch um! Nur die Großeltern jeweils sind auf ihrer Scholle geblieben. Bald schlief ich auch ein. Am frühen Morgen war der gesamte Treck schon wieder zu Hause. Ursula, mein Bruder und ich wurden in das Ehebett gelegt und sollten uns ruhig verhalten. Ich spürte die Ratlosigkeit der Erwachsenen und hätte sowieso keinen Ton von in mir gegeben.“

AnnaOffice©2008

 

Quelle
Margit Naumann „Flieg, Käfer flieg…, Nachkriegskindheitserinnerung aus Annaburg, Bücherkammer Herzberg