…ein Dorf verändert sich
1818 kam unsere gesamte Region unter preußischer Verwaltung. Alles was bisher königlich-sächsischer Besitz war stand nun zur Disposition. Die Folge war ein schleichender aber anhaltender Ausverkauf dieses ehemaligen staatlichen Besitzes. Vor allem die Annaburger Heide hatte dabei unter der verstärkten Waldnutzung zu leiden. Hier wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert verstärkt Raubbau betrieben dem große Waldflächen zum Opfer fielen.
Auf einigen der so entstandenen Blößen wurde anschließend Ackerbau betrieben. Die Flurstücken „Forstacker“ und die „Eichenhaide“ sind solche Beispiele der Umwidmungen. Aber auch die „Neuen Länder“ in Naundorf sind in dieser Zeit durch Entwässerung zur Ackerfläche geworden.
Diese anfängliche Forstpolitik änderte sich hin zur nachhaltigen Forstwirtschaft die ab der Mitte des 19.Jahrhundert auch bei uns einzog. Die Rodungsarbeiten riefen anfangs Wanderarbeiter in unser Gebiet. Da die nachhaltige Forstwirtschaft Arbeitskräfteintensiv war, wurden die Wanderarbeiter sesshaft und auf Forstgrund in den sich bildenden Kolonie angesiedelt. Auf diese Art entstand die Kolonie, aber auch die Kolonie Zscharnick in der Annaburger Heide die es heute nicht mehr gibt. Hier lebten die Waldarbeiter in den so genannten Forstbezirken. Da es sich bei der „Forst“ um einen staatlichen „Arbeitgeber“ handelte, wurden entsprechende „Vergünstigungen“ per Gesetz eingeführt. Es wurde bezüglich der Schulpflicht der Bewohner des Forstbezirkes verfügt, dass die Schulbildung in einer nahe gelegenen Kirchengemeinde zu erfolgen hat. Da die Gemeinden für den Unterhalt ihrer Schulen selber aufkommen mussten bedeutete das für sie eine finanzielle Mehrbelastung.
Allein in der preußischen Provinz Sachsen hat sich die Bevölkerung von 1815 mit 1,18 Mill. auf 2,76 Mill. 1878 mehr als verdoppelt. Auch wenn davon 41,7 % (in der Provinz Sachsen) der Bevölkerung in den größeren Städten zu finden ist, hat diese Entwicklung auch in den meisten Dörfern unserer Region ihre Spuren hinterlassen. In Naundorf entstand im Zusammenhang mit dem Landverkauf der ehemaligen Heidewiesen ein landwirtschaftliches Gut und später kamen noch landwirtschaftliche Betriebe hinzu wie z.B. eine Baumschule und zwei Windmühlen.
Die in einem Gut arbeitenden Personen gehörten normalerweise zu einem Gutbezirk und waren den der Forstbezirke gleichgestellt. Das wurde aber in Bezug Naundorf nicht mehr so gehandhabt. Die neu entstandenen Gutsbesitzer in Naundorf bekamen mit ihrem Landkauf nicht die soziale Macht eines ostelbischen, preußischen Grundbesitzers verliehen.
Zu dieser Zeit erfand Justus von Liebig (1803-1873) den Mineraldünger, der im 19. Jahrhundert eine agrarische Veränderung mit sich brachte. Die Abhängigkeit von Wetter und Boden wurde damit eingeschränkt, da fehlende Pflanzennährstoffe durch chemischen und organischen Dünger ersetzt werden konnten. Die Ernte und deren Erträge wurden durch diese Entwicklung stark erhöht. Es ermöglichte ebenso wie Erfolge in der Pflanzen- und Tierzüchtung und die Entwicklung neuer Maschinen eine Steigerung der Erträge um ein Vielfaches. Hiervon profitierten erstmal alle, die Hüfner, wie die Gutsbesitzer, aber auch die Waldarbeiter auf ihren kleinen Parzellen. Diese ehemaligen Wanderarbeiter nutzen die Eisenbahnverbindungen und arbeiteten als Zimmerleute oder Bauarbeiter in den Städten und konnten im Winterhalbjahr wo der Bau ruhte in der Forst arbeiten. Das führte auch bei ihnen zu einem gewissen Wohlstand. Sie unterschieden sich erheblich von den Industriearbeitern in der Stadt. In ihrem Häuschen lebte die gesamte Familie, oft auch generations- übergreifend. Da zu ihrem Häuslein auch ein Stück Ackerland gehörte waren sie ein stückweit autark und konnten so die Krisenzeiten, das auf und ab der Wirtschaft besser abfedern als die doppelt freien Arbeiter in der Stadt. Aber auch die ehemaligen Dörfler bildeten eine geschlossene Gemeinschaft. Bei der Aufteilung des Dorfgemeinschaftslandes, der Hutungen und zugehörigen Waldflächen bildeten sie entgegen den anderen Dörfern der Region eine Genossenschaft, die Hüfnerschaft.
Solche Genossenschaften machen nur einen Sinn, wenn man auch ein Stückweit zusammenarbeitet und sich gegenseitig hilft, was in Naundorf offensichtlich über Jahre hinweg funktionierte. Auf Grund dieser sich herausgebildeten Wirtschaftsbasis, siedelten sich auch noch der eine und andere Kleingewerbeunternehmer an. All das Zusammen ergab dann am Ende der Kaiserzeit und in der Zeit der Weimarer Republik ein völlig verändertes Naundorfer Gemeinwesen. Angemerkt sei hier noch, dass um 1900 ein Landwirt Nahrungsmittel für vier Personen produzierte, während er heute 145 Menschen versorgt.
Amtdorf – jetzt Kreisgeführte Dorfgemeinde – was ändert sich da schon?
Das führte zwangsweise zur Änderung der alten langjährigen dörflichen Sozialstruktur. Sie bestand nun nicht mehr nur aus den Bauern und ihren Knechten, wo die Bauern über den Bürgermeister ihr übersehbares „Dorfreich“ regierten. Mit der preußischen Besitzergreifung änderten sich für den Bürgermeister naturgemäß auch seine Rahmenbedingungen nach denen er „regieren“ durfte und musste. Naundorf war ja nun kein Amtdorf mehr. Naundorf gehörte jetzt zu dem sich neu bildenden Kreis Torgau. Hier agierte jetzt der „Landrat“ der die Aufgaben der Amtmänner nun zu übernehmen und die Geschicke des Kreises zentralisiert zu leiten hatte. Große adlige Güter bestanden ja nicht in unserer Region, sodass diese Zentralisierungsbestrebungen auf keinen nennenswerten Widerstand hier führte.
Ähnlich den Grundsätzen der Ordnung für sämtliche Städte der Preußischen Monarchie vom 19. November 1808 sollte nunmehr auch der gesamten ländlichen Bevölkerung Gelegenheit gegeben werden, ehrenamtlich an der Verwaltung beteiligt zu werden. Naundorf und Annaburg bildeten im Torgauer Landkreis eine „preußische“ Landgemeinde. Neu war, dass neben dem Bürgermeister „ehrenamtliche“ Räte, die Gemeinderäte ein Mitbestimmungsrecht erhielten. Für preußische Verhältnisse sehr revolutionär.
Dieses Modell sollte als Gemeinde-Ordnung in den 1850er Jahren im gesamten preußischen Staatsgebiet eingeführt werden. Sie wäre in ihrer Zeit eine sehr fortschrittliche Gemeindeverfassung gewesen, in der der gesamten ländlichen Bevölkerung Gelegenheit gegeben wurde, ehrenamtlich an der Verwaltung beteiligt zu sein. Die Einführung dieser Gemeindeverfassung im gesamten preußischen Staatsgebiet scheiterte an den preußischen Gutsbesitzern und wurde bereits nach drei Jahren rückgängig gemacht. Gesamtes Staatsgebiet heißt aber nicht auch bei uns – hier wurde es in Ermangelung eines älteren „Landrechtes“ beibehalten (denn das sächsisches Recht galt ja nicht mehr). So blieb der eingeführte Stand erhalten und in der Folge wurden auch die Forstgutbezirke aufgelöst und den bestehenden Dorfgemeinden zugeschlagen. Diese „Neuerung“ veränderte die bisherige dörfliche Naundorfer Gemeinde völlig. Der vorher als Forstgutbezirk entstandene Siedlungsbereich „Kolonie“ mit ca. 200 Einwohnern wurde nun nach Naundorf „eingemeindet“. Der „Staat“ als (Forst)Gutsherr hatte ja keine Macht zu verlieren.
Die ursprüngliche bäuerliche Gemeinschaft von Naundorf hat diese sich anbahnende Veränderung unter dem preußischen Regime beargwöhnt. Sie fühlten sich nicht so recht wohl damit und rückten naturgemäß daher mehr und mehr zusammen. Bei den Separationsverhandlungen zur Privatisierung und Aufteilung der gemeinschaftlichen Hutungsrechte gründeten sie 1870 einzigartig in unserer Region eine Hüfnergenossenschaft. Diese Entscheidung war zwar konservativ geprägt, weil sie das über sie hereingebrochene „Neue“ fürchteten, aber ihre Lösung war dabei zutiefst fortschrittlich. Es half ihnen später ihre Interessen mit mehr Nachdruck vertreten zu können.
Die neu entstandenen Güter mit ihren „Gutsherren“ wurden von der bäuerlichen Dorfbevölkerung als unliebsame Konkurrenz hinsichtlich der vorherrschenden Arbeitskräftesituation erlebt. Die neuen Gutsbesitzer waren aber bei der aufkommenden Modernisierung und Technisierung der landwirtschaftlichen Produktion die Vorreiter. Hier konnte und wurde gelernt. Um auch hier bei einigermaßen mithalten zu können half den alteingesessenen Bauern nun ihre Hüfnergemeinschaft. Anfänglich griffen die neuen Gutsbesitzer auf die Tagelöhner aus den aufgelösten Forstbezirke oder den hier sesshaft gewordenen Wanderarbeitern zurück. Sie zogen aber auch in Folge nichtansässige saisonale Arbeitskräfte – hier vorrangig aus den polnischen Randgebieten – zur Arbeit heran. Die Unterbringung dieser saisonalen Kräfte erfolgte in der „Kaserne“.
Das Dorf Naundorf als Glaubensgemeinschaft musste die Familien der Waldarbeiter der Forstbezirke aufnehmen. Als Ausgleich für diese Unbill erhielten sie 1889/91 einen schönen neuen Kirchenneubau und eine eigene evangelische Pfarrei. Die Bethauer Finalkirchstruktur hörte nach der preußische Übernahme auf. Vermutlich wurde hier auch Bethauer Kirchengrund zur Finanzierung der neuen Kirche oder der notwendigen Schulgebäude herangezogen. Diese Veräußerung von Kirchenland war die Geburtsstunde der Triftbebauung. Im Gegensatz zur Kolonie, waren es aber überwiegend ehemalige Wanderarbeiter die hier ihr neues Zuhause errichteten. All diese Veränderungen führten dazu, dass die dörfliche Gemeinschaft nun sozial sehr auf gespalten war. Noch im Kaiserreich wuchs in Naundorf eine neue Kraft heran, die sich aus den Reihen der Wanderarbeiter formierte und trotz Bismarckscher Sozialgesetzte auch hier in einem Dorf Anhänger gewann, die SPD gewann auch hier zahlreiche Mitglieder. Ein Ausdruck dafür waren die Vielzahl sich bildenden Arbeitersportvereine, wie den Arbeiterradfahrverein Naundorf.
weitere Veränderungen
Der erste Weltkrieg endete mit einem völligen Desaster – das erst kürzlich entstandene Kaiserreich wich einer ersten demokratischen Ordnung – die Deutschen gaben sich ihre Weimarer Verfassung. Die Politik wurde politischer. Seinen Ausdruck findet das in der Vielzahl der politischen Parteien die im Reichstag vertreten sind und damit die unterschiedlichsten politischen Ansichten der deutschen Bevölkerung repräsentieren.
Viele Mitglieder der SPD empfanden die Rolle die ihre Partei bei der entstehenden Weimarer Republik spielte als Verrat ihrer eigentlichen Interessen. So verließen sie in unserer Region fast geschlossen die SPD und wurden Mitglieder der USPD. Diese vereinigte sich dann später mit dem Spartakusbund zur KPD. So wundert es nicht, dass sich einige politische Fragestellungen auch in der „Ortspolitik“ änderten. Althergebrachtes wurde nun in Frage gestellt. So wurde bereits am 05.07.1919 beschlossen einen Rechtsanwalt mit der Klärung zu beauftragen ob die Hüfnergemeinschaft auch rechtmäßiger Besitzer ihres Gemeinschaftseigentums ist oder nicht etwa die gesamte Naundorfer Gemeinde! Wir sehen auch daran, dass in der Gemeindevertretung die USPD und später die KPD ihr Mitspracherecht ausübte. So auch beim Beschluss vom 03.11.23 zur Renovierung des Armenhauses auf Kosten der Gemeinde zur Unterbringung obdachloser Wanderer. Die Namen der Gemeindevorstehers nennt unsere Chronistenquelle nicht. Erst 1925 erfahren wir beiläufig: „Neubesetzung des Gemeindevorstehers durch Postsekretär a.D. Richter“ – davor und danach werden uns die Namen verschwiegen. 1927 erfolgt der Beschluss auf Gemeindekosten eine Blitzschutzanlage auf dem Schulgebäude zu installieren. Zuvor brannte infolge eines Blitzschadens am 22. September Wirtschaftsgebäude und Scheunen von 5 Bauern sowie ein Wohnhaus ab. Blitzschutz war 1927 noch nicht „Norm“ sondern „Ausnahme“. Im August 1932 wird sogar ein Beschluss zur Schaffung eines Badeteiches gefasst. Es ist die Zeit in der Naundorf einen „Kommunisten“ zum Bürgermeister hat. Das wissen wir aber nur, weil am Beginn des „Tausendjährigen Reich“ Herr Gräfe am 07.03.1933 seines Amtes enthoben wurde. Aber das gehört zu einem anderen Kapitel dieser Geschichte.
BERND HOPKE
ANNABURGER ORTSCHRONIST
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Quelle: Zweite Chronistin Magda Miething; Chronik der Gemeinde Naundorf; 70iger Jahre, abschriftlich B. Hopke 2024-02-15; Landrat Wisand; Schreiben an die königliche Regierung, Abt. für Kirchen- und Schulwesen in Merseburg vom 7.April 1916; Protokollbuch Nr. 1801; Johannes Herrmann „Die Entwicklung der ländlichen Gemeindeabgaben im Kreise Torgau (Elbe).“ In Inaugural-Dissertation der hohen philosophischen Fakultät der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle –Wittenberg; Juni 1910; DigiZeitschriften; Statistisches Jahrbuch des deutschen Reiches 1881; Band 1880; Verlag Puttkammer & Mühlbrecht; unter: https://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN514401303_1880; Wikipedia zu „Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat“; unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinde-Ordnung_f%C3%BCr_den_Preu%C3%9Fischen_Staat; Zugriff 04/2024 Autor unbekannt; „Bethauer Schulchronik“; handschriftliches Material zur Geschichte von Bethau zur Verfügung gestellt von Roswitha Ullrich; Bethau 2014