Bahnanschluss ins KZ

Sonderzug nach Lichtenburg

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Die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung aber auch die Soldaten der Wehrmacht behaupteten nach 1945 von den KZ nichts gewusst zu haben. In unserem Heimatgebiet wusste man jedenfalls bescheit, dort berichtete sogar die Presse darüber:

Sonderzug nach Lichtenburg – Der erste Transport politischer Gefangener nach der Lichtenburg“,

so meldete die Torgauer Zeitung am 21. Juni 1933. Ausführlich wurden die Leser sodann über Einzelheiten eines Vorgangs unterrichtet, der ein wichtiges Glied in der Kette der unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einsetzenden Maßnahmen zur Verfolgung und Ausschaltung politischer Gegner war.

Gestern nachmittag gegen 2 Uhr trafen die ersten 500 politischen Gefangenen aus dem Bezirk Mitteldeutschland, die für das Konzentrationslager Lichtenburg bei Prettin bestimmt waren, in einem Sonderzuge von 12 Personenwagen, aus Halle kommend, auf dem hiesigen Bahnhofe ein. Begleitet war der Gefangenentransport von einer Hundertschaft Schutzpolizei aus Halle, die zum Teil mit Karabinern bewaffnet war und sämtliche Eingänge zu den Wagen scharf bewachte. Aus dem Torgauer Untersuchungsgefängnis sowie dem Strafgefängnis Fort Zinna wurden diesem Transport insgesamt 11 politische Gefangene, die aus unserem Heimatkreise stammen, zugeführt. Zahlreiche ‚Genossen‘ hatten sich auf dem Bahnhof eingefunden und nahmen mit Rufen, wie ‚Kopf hoch‘, wehleidigen Abschied. Nach Maschinenwechsel wurde die Fahrt nach Dommitzsch fortgesetzt, von wo aus sich die Gefangenenkolonne, unter der sich übrigens auch einige weibliche Personen befanden, nach der Lichtenburg bei Prettin in Marsch setzte. Das frühere Strafgefängnis Lichtenburg, das seit Jahren leergestanden hat, wird in den nächsten Tagen einen weiteren Zugang von etwa 500 politischen Gefangenen erhalten, so daß sich die Gesamtinsassenzahl des Konzentrationslagers Lichtenburg auf 1.000 belaufen wird.“

Diese Meldung aus der Torgauer Zeitung – der einzigen regionalen Tageszeitung für den Kreis Torgau, auf dessen Territorium sich das Lager befand – ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Neben der eigentlichen Mitteilung über die Eröffnung eines Konzentrationslagers im ehemaligen Zuchthaus Lichtenburg erhielten die Leser weitere Einblicke, etwa in die Anzahl der eingelieferten Gefangenen, die eingeschlagene Marschroute und die Art des genutzten Verkehrsmittels. Unerwähnt blieb hingegen die sicherlich nicht unkomplizierte Querung der Elbe durch mehrere Hundert Gefangene per Fähre.

Allein der reibungslose Transport der Gefangenen war nur durch eine Kooperation vieler Instanzen möglich. Hier arbeiteten die Regierungsbehörden, Deutscher Reichsbahn, Polizei und SS eng zusammen. In Annaburg waren da z.B. auch die Reichsbahnangestellten des Bahnhofes fest intrigiert.

ps_20161103162750Die ersten Bahntransporte in das Konzentrationslager Lichtenburg wurden zunächst über die Kreisstadt Torgau geleitet. Torgau lag an der Eisenbahnstrecke, die von Halle ins niederschlesische Sorau führte. Dem Kursbuch für die Gefangenenwagen (Diese Wagen sind nicht mit den Deportationszügen der Juden zu vergleichen, wofür normale Personenwagen oder Viehwaggons genutzt wurden) zufolge gehörte dieser Streckenabschnitt zum 1. Umlauf im Ring VI. Jeden Mittwoch verkehrte um 4.52 Uhr ein Gefangenenwagen ab Halle mit Zwischenhalt in Delitzsch, Eilenburg, Torgau, Falkenberg(Elster), Doberlug-Kirchhain, Finsterwalde und Calau nach Cottbus.

ps_20161121161858Nach der Einrichtung des Konzentrationslagers Lichtenburg wurde auch die Bahnstation Prettin in das Kursbuch für Gefangenenwagen aufgenommen. Das ist bemerkenswert, da die Kleinstadt lediglich über einen Kleinbahnanschluss nach Annaburg verfügte. Allem Anschein nach ist die Aufnahme Prettins jedoch nur die Reaktivierung einer bis zur Auflösung des Zuchthauses Lichtenburg im Jahr 1928 bestehenden Verbindung. Prettin lag an der Strecke Halle – Magdeburg (Ring V, 1. Umlauf). Die Einbeziehung Prettins war nur durch einen Umweg und eine dreistündige Fahrtunterbrechung möglich. Die Fahrt des Gefangenenwagens führte freitags von Halle ab 7.18 Uhr über Bitterfeld zunächst nach Dessau (Ankunft um 9.51 Uhr). Von Dessau ging es um 11.30 Uhr über Roßlau, Coswig (Anhalt), Wittenberg nach Annaburg (Ankunft um 13.26 Uhr). Hier musste der Gefangenenwagen durch den Personalbestand des Bahnhofes Annaburg umrangiert werden. Um 13.47 Uhr ging die Fahrt nach Prettin weiter. Ankunftszeit in Prettin war um 14.23 Uhr. Erst um 17.30 Uhr setzte sich der Gefangenenwagen wieder in Richtung Dessau über Annaburg (Ankunft 18.00 Uhr und Abfahrt 18.47 Uhr) in Bewegung, wo er um 20.41 Uhr eintraf.

Der ehemalige Häftling Walter Müller erinnerte sich in einer Zeugenbefragung, dass er „in einem Transport von etwa 50 Häftlingen nachts auf dem Bahnhof Prettin“ angekommen wäre. Diese Aussage ist der einzige bekannte Hinweis auf die Nutzung der Kleinbahnstrecke zum Gefangenentransport. Allerdings stimmt Müllers Erinnerung an ein nächtliches Eintreffen nicht mit der im Kursbuch genannten Ankunftszeit überein. Ein Transport von lediglich 50 Häftlingen spricht zwar gegen einen „Sonderzug“ wie bei der Einrichtung des Lagers am 20. Juni 1933, möglicherweise deutet die nächtliche Ankunft aber darauf hin, dass die Gefangenen außerhalb des regelmäßigen Bahnverkehrs befördert wurden.

ps_20161121160952Vom Bahnhof Prettin marschierten Müller und seine Mitgefangenen dann zu Fuß zum Konzentrationslager. Während des Marsches waren die Bewacher erstaunlich friedfertig. „Wir wurden zwar beschimpft“, gab er zu Protokoll, „erhielten aber im übrigen nur allgemeine Verhaltensmaßregeln“.

Die Transportkapazität der Deutschen Reichsbahn wurde letztmalig bei der Überführung der Frauen aus dem Konzentrationslager Moringen nach Prettin 1937/1938 in großem Umfang genutzt. In den überlieferten Unterlagen werden Alter und „körperliche Anfälligkeit“ als Grund für die Nutzung der Bahn genannt. Zum Transport stellte die Reichsbahndirektion Kassel an drei Tagen Sonderzüge bereit. Der erste Transport verließ den Bahnhof Moringen am 15. Dezember 1937 um 7.40 Uhr mit 200 Häftlingen. Die Fahrtroute führte von Moringen über Northeim, Nordhausen, Halle, Wittenberg und Annaburg nach Prettin, das er um 13.40 Uhr erreichte. Der „Extrazug“ bestand aus „3 modernen Eilzugwagen, von denen ½ Wagen 2. Klasse für Kranke“ eingerichtet worden war. Kraftfahrzeuge brachten anschließend die Frauen im Pendelverkehr vom Bahnhof zum Konzentrationslager. Der zweite und der dritte Transport mit 150 bzw. 164 weiblichen Häftlingen folgten am 21. Februar und am 21. März 1938. Für den Einsatz des ersten Sonderzuges berechnete die Reichsbahndirektion Kassel der Inspektion der Konzentrationslager 1.197,70 Reichsmark. Hinzu kamen noch 389,29 Reichsmark für den Transport vom Bahnhof zum Lager. Da die Zahlungsmoral zu wünschen ließ, bestand die Reichsbahn für die folgenden beiden Transporte auf Vorauszahlung. Die Anforderung eines Kursbuches für Gefangenenwagen durch die Verwaltung des Frauen-Konzentrationslagers Lichtenburg im Dezember 1937 belegt aber, dass die SS trotz ihres stetig steigenden Einflusses und trotz finanzieller Streitigkeiten, immer noch auf fremde Dienstleister angewiesen war.

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Die Häftlingstransporte mit Gefängniswagen durch die Deutsche Reichsbahn erfolgten in Fortsetzung dieser Transportorganisation aus der Zeit der Weimarer Republik.

ps_20161121192417„Gefangenentransport … von und nach den Straf- und Korrektionsanstalten“ Aufschluss über das Procedere: „Auf den preußischen Staatsbahnen findet der Transport von Gefangenen sowie der Aufsichtspersonen (Gendarmen) von und nach den Straf- und Korrektionsanstalten in Zellenwagen oder in besonderen Wagenabteilen statt, die von den Nachbarabteilen durch vollständig bis zur Decke reichende Zwischenwände getrennt sein müssen. Zur größeren Sicherheit und besseren Trennung der Gefangenen von den übrigen Reisenden sind regelmäßige Sammeltransporte eingerichtet. Der Sammeltransport von Gefangenen erfolgt in besonderen Zellenwagen, die nach festgesetzten Fahrplänen in die Personenzüge eingestellt werden und stets von je einem Gefängnisbeamten (Transportleiter), der über die Gefangenen eine Transportliste zu führen hat, begleitet werden müssen. Von den Sammeltransporten wird bei allen Arten von Zwangsbeförderungen (auch bei Militärgefangenen) Gebrauch gemacht; nur Geisteskranke, die der Fürsorgeerziehung überwiesenen jugendlichen Personen und hochschwangere Frauen werden stets einzeln befördert. Die Zellen der Gefangenenwagen werden in der Regel nur mit einem Gefangenen besetzt, keinesfalls dürfen Untersuchungsgefangene mit Strafgefangenen, Jugendliche mit Erwachsenen und Personen, die sich im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befinden, mit solchen, deren Rechte aberkannt sind, zusammengebracht werden.“ Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts standen der Deutschen Reichsbahn 64 Gefangenenwagen zur Verfügung. Der älteste stammte aus dem Jahr 1883, der modernste wurde 1936 in Betrieb genommen. In der Regel bot ein Wagen 28 bis 30 Gefangenen Platz. Da jede erbrachte Transportleistung Kosten hervorruft, für deren Begleichung eine Person oder Institution aufkommen muss, lassen sich zumindest die finanziellen Aspekte des Häftlingstransports ohne Probleme rekonstruieren. Die Bezahlung der Transporte war bis zum Jahr 1937 Angelegenheit der Länder. Dann übernahm das Deutsche Reich in Person Heinrich Himmlers als Chef der deutschen Polizei den Gefangenentransport. Geregelt wurde die Kostenübernahme durch Verordnungen und Runderlasse. Da sich Polizei und Justiz – und auch die SS – nach den Gepflogenheiten der Bahn zu richten hatten, ließ die Justizverwaltung eigene Kursbücher für Gefangenenwagen drucken (siehe Anhang).

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„fremder Dienstleister“ 

Verlegung mit Kraftfahrzeugen

Der Transport von Häftlingen per Lkw bot Polizei oder SS den Vorteil, bei Verlegungen unabhängig von den Vorgaben der Reichsbahn zu sein. So wurden im August 1933 aus dem Sammellager Weißenfels, einem regionalen Lager unter staatlicher Kontrolle, 100 Häftlinge mittels Lkw zur Lichtenburg überführt.

Gleichfalls mit Lastkraftwagen kamen im Juli 1934 viele der nach dem „Röhm-Putsch“ in Berliner Gefängnissen inhaftierten Männer zum Konzentrationslager Lichtenburg. Aber das waren nur Ausnahmen. Der Einsatz von Lastkraftwagen war auf Sonderaktionen wie die Einrichtung bzw. Auflösung von Konzentrationslagern beschränkt. Dies hängt damit zusammen, dass die SS-Totenkopfverbände, in deren Händen seit 1934 die Bewachung der Häftlinge lag, über die notwendigen eigenen Kapazitäten gar nicht verfügten. Die etatmäßige Motorisierung dieser Verbände erfolgte erst seit Beginn des Jahres 1938. So mussten für die Lkw-Transporte die SS die nötigen Fahrzeuge erst aus anderen Standorten bzw. von anderen Dienststellen zusammenziehen. Sehr wahrscheinlich standen dem SS-Totenkopfsturmbann „Elbe“ am Standort Prettin überhaupt keine eigenen Lkws zur Verfügung, denn im Dezember 1937 wurden bei der Einrichtung des Frauen-Konzentrationslagers für den Häftlingstransport vom Bahnhof zum Lager ein Postauto und der Pkw eines Privatunternehmers angemietet. So meldete u.a. auch die Torgauer Zeitung in einer kurzen Nachricht, dass „zwei Omnibusse einen Transport von 46 Mann“ aus Kiel zur Lichtenburg überführt hätten.

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Für die Häftlinge war der mehrstündige Lkw- Transport einprägsamer, weil unbequemer und körperlich anstrengender. Außerdem herrschte während der Fahrt ein Sprechverbot, das beim Transport in Gefangenenwagen der Bahn schlechter zu kontrollieren war. Auf der mit einer Plane bedeckten Ladefläche waren die Gefangenen zudem Hitze oder Kälte schutzlos ausgesetzt. Hinzu kam die Angst, dass der Lkw abseits der Straße anhalten könnte und die Gefangenen erschossen werden würden.

Eine Sonderstellung nahmen Einzeltransporte ein, mit denen in den Jahren 1933/1934 Häftlinge unter Verantwortung des Prettiner Bürgermeisters als Chef der Ortspolizeibehörde zum Gerichtsort geschafft wurden. Die Häftlinge wurden von einem „Ziviltransporteur“ zumeist nach Torgau überführt und von dort auch wieder abgeholt. Gelegentlich musste ein Häftling auch bis nach Naumburg oder Leipzig gebracht werden. Aus erhaltenen Rechnungen des Bürgermeisters an den Landrat geht hervor, dass die Verlegung eines Häftlings von Prettin nach Torgau 0,65 Reichsmark kostete – 0,60 Reichsmark für eine Fahrkarte 3. Klasse von Torgau nach Dommitzsch und 0,05 Reichsmark für die Elbfähre. Für den Begleiter stellte der Bürgermeister 4,47 Reichsmark – offenbar dessen Fahrtkosten und eine Aufwandsentschädigung – in Rechnung. Der Transport eines Häftlings nach Leipzig kostete 3,40 Reichsmark für den Gefangenen und 8,53 für den Begleiter. Für den Bürgermeister war der Häftlingstransport auch eine Möglichkeit zur materiellen Unterstützung von „alten Kämpfern“, denn er beauftragte mehrmals das langjährige, arbeitslose NSDAP-Mitglied Otto S. aus dem Ort Lichtenburg mit der Überführung einzelner Häftlinge.

Abschließend sei bemerkt, dass an der Organisation der Transporte sich in den Jahren der Existenz des Konzentrationslagers Lichtenburg nur wenig änderte. Über den konkreten Einsatz der verschiedenen Transportmittel und –möglichkeiten entschied die Lagerverwaltung situationsabhängig. 1933/34 war zunächst die Bahn das bevorzugte Transportmittel. Nach dem Wechsel in der Zuständigkeit von der Polizei zur SS strebte diese an, Verlegungen möglichst in eigener Regie durchzuführen.

 

Bernd Hopke
Ortschronist

AnnaOffice©2020-12-29

 

Quelle

  • Dietmar Schulze „Sonderzug nach Lichtenburg“ – Häftlingstransporte ins Konzentrationslager
  • MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERGHALLISCHE BEITRÄGE ZUR ZEITGESCHICHTE 2007/1
  • www2.geschichte.uni-halle.de/halbz/17_Schulze.pdf Zugriff 05.2008