Die Spinnerin

Die nächtliche Spinnerin von Purzin


Etwa auf halber Strecke zwischen Purzin und Löben liegt eine kleine Sanddüne, welche mit Wald bestanden ist. Da das Wäldchen zu ehemals Gärtner Bergers Wirtschaft gehörte, so nannte man es Bergers Fichten. In diesen Fichten, auf der höchsten Kuppe, sollte nach der Erzählung der Alten nun jede Nacht Gärtner Bergers Muhme (alte Bezeichnung für Tante), welche schon längst tot war, mit einem Spinnrad sitzen und spinnen. Warum sie das Nacht für Nacht tun muss, kann aber keiner mehr sagen. Man wusste aber, dass sie sich  von dem Fluch erlösen könne, wenn sie ein unschuldiges in ihre Gewalt brächte. Als nach dem großen Weltkrieg 1914/18 die Jugend nach Frohsinn strebte, ging sie auch in die Nachtbardörfer zum Tanz. So auch die Purziner Jugend zum Kirmistanz nach Löben. Nachdem man nun fleißig getanzt und getrunken hatte, machte man sich wieder auf dem Heimweg. Niemand glaubte mehr an die alte Spinnerin, denn es hatte von der lebenden Generation noch niemand die Gestalt gesehen. So wollte man auch den kürzesten Weg am Grabenrand bei Bergers Fichten entlang nehmen. Auf einmal schrie Jahns Lina auf: „Mich hat’se – mich hat’se!“ – Denn an ihrem Rocksaum zog es mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt, dass konnte nur Bergers Muhme sein. Sofort sprangen ein paar beherzte Burschen zu und zogen die vor Angst schlotternde Lina in die andere Richtung. Als sie nun glücklich ihre vier heimatlichen Wände erreicht hatten und die Leichenblasse Lina sich ihr Kleid beim Schein einer Petroleumlampe betrachtete, fand sie neben den Rissen auch ein Stück von einer Brombeerranke. Die heimtückische Hecke hatte ihr den Schreck eingejagt und nicht die nächtliche Spinnerin.

 

Willy Eichler

 

Quelle
Sagensammlung von Willy Eichler, Schulbroschüre

Annaburg©2022-02-11