Nachtwächtergesang

Über den Gesang des Prettiner Nachtwächter Kulisch 1836


Die Aufgabe des Nachtwächters war es, nachts durch die Straßen und Gassen der Stadt zu gehen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er warnte die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben. Er überwachte das ordnungsgemäße Verschließen der Haustüren und Stadttore, und häufig gehörte es auch zu den Aufgaben des Nachtwächters, die Stunden anzusagen – weniger als Auskunft als mehr zur Anzeige, dass er seinem Dienst ordnungsgemäß nachging. Er hatte das Recht, verdächtige Personen, die nachts unterwegs waren, anzuhalten, zu befragen und notfalls festzunehmen.
Zur typischen Ausrüstung eines Nachtwächters gehörten eine Hellebarde oder eine ähnliche Stangenwaffe, eine Laterne und ein Horn. Der Nachtwächter gehörte, obwohl er eine wichtige Tätigkeit in der Stadt ausführte, wie zum Beispiel der Abdecker oder der Henker, meist zu den unehrlichen Berufen und lebte daher in sehr bescheidenen Verhältnissen.

Über ihn stellt der Oberpfarrer (Buch) eine Betrachtung an, die wir um ihres eigenartigen mit Ernst und Scherz gemischten Inhalts willen den Lesern nicht vorenthalten wollen. Er schreibt 1833:

„Für die nächtlichen Wächter ist doch noch gar wenig geschehen, um ihren Stundenruf gebührender Maßen in die heitere Region christlich erbaulichen Gesanges emporzuheben. Doch sann auch in dieser unscheinbaren Hüterstunde einer Macht bereitet werden, die Traurige tröstet, Leichtsinnige warnt, Bösewichter erschüttert, Glückliche zum Preis des Herrn bewegt. In den Stunden der Nacht, wenn die Schöpfung im Schlummer liegt und das unruhige Treiben der Welt verklungen ist, hat ohnehin ein schlichtes Christenwort oft eine besondere Macht, wenn es mit Andacht gerufen oder gesungen wird, fast wie eine Stimme aus einer höheren Welt. An manchen Orten ist es vornehmlich der Nachtwächter, der durch einen einfältigen Christenruf noch bezeugt, daß noch eine Christenheit existiere und die Wahrheit, die am Tage unter dem Getümmel der Weltlüge verhallt erhebt ihre Stimme in stiller Mitternacht oft am kräftigsten für die, die welche noch einen Funken höheren Bedürfnisses in sich tragen. Ein christlicher Nachtwächterruf ist besser als eine kalte, naturalistische Predigt, und es ist gut, wenn er sie in dem Maße wieder umstößt, in welchem einst Demosthenes über seinen Gegner Phokion, der seine langen Reden mit kurzen Worten widerlegte, geklagt hat, das Phokion die Axt seiner Reden (lateinisch: securis orationum) sei. Freilich sollten dann auch die musikalischen Leistungen der meisten Nachtwächter besser sein. Bei ihnen liegt die Musik noch in den Windeln. Viele scheinen die Stimmen der Tierheit und Menschen amalganieren (verschmelzen) zu wollen. Etliche plärren wie die Mondkälber, privilegierte Calibans (Gebilde griechischer Sage, Mittelding zwischen Mensch und Meerkalb), welche mit ihrem Geschrei einem Fürsten vom Thron stürzen und schwarzes Haar weiß färben könnten. Andere ahmen die Melodien eines altfränkischen Dudelsacks mit erstaunlichem Talente nach. Andere quaken wie Frösche. Andere warnen so gründlich vor Verwahrlosung des Feuers und Lichts, daß man bereits einen Feuerlärm ausgebrochen glaubt. Wieder andere befleißigen sich einer Melodie, welche daran erinnert, daß sie die Brille zu fest auf ihre Nase gedrückt haben mögen und welche einen abenteuerlichen Bastardton zwischen Klarinette und Hoboen bildet. Andere singen leiser, ungefähr wie Göthe (Goethe) sagt: Fliegenschnauz und Mückennas, das sind die Musikanten. Genug, die meisten Nachtwächter sind das Gegenstück der Opern- und Kirchensänger, immerhin ehrliche Leute, aber in Hinsicht ihrer musikalischen Leistungen erbarmungswürdig wert, daß ein mitleidiger Musikus sich ihrer endlich einmal annehmen und ihnen in einem kleinen, sonderlich für sie gefertigte Choral- und Arienbüchlein dartät, wie ein christlicher Nachtwächter singen soll. Mancher ist ein musikalischer Dorftyrann, ein Mann des Schreckens, ein Salmoneus, (Gestalt der griechischer Sage, Sohn des Aolus, der vom Zeus mit dem Blitz erschlagen wurde, weil er sich ihm gleichzustellen wagte) bei dem man freilich, wenn man ihm näher kam, an Shakespeares Worte erinnert wurde: Ihr Herren fürchtet – nicht die geringste Maus, wenn nun der Löwe wild lässt sein Gebrüll heraus! - Prettins Nachtwächter, dessen Stundenruf diese Betrachtung veranlasste, hieß damals Kulisch."

Bernd Hopke 
Ortschronist
Quelle: 
Leisegang; „Die Geschichte der Stadt Prettin und ihrer nächsten Umgebung dargestellt von Superintendent Leisegang - Kapitel 1. In ältester Zeit. Aus einer von Superintendent Buch 1833 begonnenen Chronik Prettins; maschinenschriftlich Hans-Albrecht Gäbel 2015

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