Albert Müller

Erinnerungen an das Militär-Knaben-Erziehungsinstitut Annaburg

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Aufnahme in Annaburg

Wie kam ich nach Annaburg? Schloss Annaburg war ein Waisenhaus. Es nahm Jungen von Soldaten auf. Meine Mutter starb 1915, kurz nach der Geburt meiner jüngeren Schwester. Dadurch wurde meine Aufnahme in Annaburg möglich. Mein Vater war zu der Zeit Offizier bei der Feldgendarmerie in Litauen. Meine Schwester und ich wurden von der Großmutter und ihrer 18-jährigen Tochter, meine beiden Brüder von den Großeltern väterlicherseits aufgenommen. Mein Großvater väterlicherseits starb bald darauf. Seine Frau alleine konnte uns Brüder nicht aufziehen. So kamen wir wieder zusammen. Für meine Großmutter und ihre Tochter waren wir ein familiäres Problem geworden.

Entsetzt war ich, als mein Vater mir schrieb, dass er einen Antrag auf Aufnahme in das Militär-Knaben-Erziehungsinstitut Annaburg gestellt habe. Ich stellte mir vor, dass sich dort nur heruntergekommene und verwahrloste Jungen aufhielten, dass es gewissermaßen eine Bestrafung für mich sein sollte. Mein Vater wusste meine Bedenken zu zerstreuen. Der Antrag meines Vaters auf Aufnahme in die Anstalt Annaburg wurde abgelehnt, da die betreffenden Etatstellen schon besetzt seien und ich außerdem noch nicht 11 Jahre wäre. Hierüber war ich nicht traurig.

Mein Vater fuhr sofort mit mir nach Annaburg. Dort erfuhren wir, dass der letzte Einstellungstermin von der 4.Kompanie gerade vorgenommen wurde. Wir wurden an den Kommandeur der Anstalt, Herrn Major Hotlz, verwiesen. Nach längerem Warten verhandelte mein Vater ohne mein Beisein mit ihm. Inzwischen wurde ich von einem uniformierten Jungen in die Schule gebracht und von einem Lehrer kurz in Mathematik und Diktat geprüft. Außerdem musste ich einen Aufsatz über meine Fahrt mit der Eisenbahn nach Annaburg schreiben. Auf dem Weg zur Schule hatte ich viele Jungen in ihren schmucken,  blauen Uniformen gesehen und nun tat es mir leid, dass ich nicht dabei sein sollte. Also strengte ich mich entsprechend bei der Prüfung an. Nach einiger Zeit bekam ich das positive Urteil über meine Prüfung und wurde von dem Jungen in Uniform wieder zum Kommandeur gebracht. Unterwegs konnte ich mich mit dem Jungen unterhalten und er sagte mir, dass es ihm sehr gut in Annaburg gefiele. Am Schluss der Besprechung mit dem Herrn Major wurde dann meine Einstellung zum 01.04.1918 festgelegt.

An meinem Einstellungstermin traf ich in Wittenberg mit einigen Jungen zusammen, die ebenfalls nach Annaburg wollten. Dort wurden wir von einem Unteroffizier abgeholt, der uns zu Viererreihen zusammenstellte und sagte: „Wir marschieren zur Anstalt. Ihr seid keine Hammelherde, sondern von jetzt ab Rekruten.“ Im Schloss angekommen, wurden wir in einen Saal der 4. Kompanie gebracht. Wir waren über 20 Jungen. Als Stubenältesten stellte man uns einen Korporalschaftsältesten vor, der schon zwei Jahre in Annaburg war. Er war unser Betreuer. Wir hatten ihm Gehorsam zu leisten. Später meldete sich dann noch unser „Rekrutenunteroffizier“. Das Abendessen nahmen wir im Speisesaal ein.
Eindrücke vom Dienstbetrieb

 

ps_20161023211501Am anderen Morgen weckte uns das laute Gebrüll „Aufstehen“. Wir wurden in den Waschraum geführt. Hinterher mussten wir die Matratzen in einem Bogen auf dem Bettgestell aufstellen, um ausfindig machen zu können, ob Bettnässer dabei waren. Stellte der Stubenälteste solches fest, wurden sie ins Lazarett zur Untersuchung geschickt. Meistens mussten sie dann nach Hause zurück.

Die Einkleidung erfolgte nach dem Frühstück. Entsprechend der Zahl der Rekruten warf man uns die Schuhe über die Absperrung zu, jeder sollte sich selbst die Passenden aussuchen. Genauso erging es uns mit den Mützen, den Anzügen der 4. Garnitur und dem Drillichzeug. Die anderen Sachen waren problemloser. Darüber verging der ganze Vormittag. Nachmittags wurden wir von fachkundiger Hand beim Spindeinrichten, Bettenbau und Anziehen der Uniform unterwiesen.
Am nächsten Vormittag ging es in die Schule zur Einteilung in Klassen. Die zuständigen Lehrer wurden uns vorgestellt. Wir mussten als Erstes einen Aufsatz schreiben über unser bisheriges Leben, unter anderem darüber, wer das Erziehungsrecht über uns ausübte, welche Schulen wir besucht hatten und weshalb wir nach Annaburg gekommen seien. Nach dem Mittagessen erfolgte der Unterricht über das Verhalten der Kameraden untereinander und über den Dienstbetrieb: Unter anderem Stubendienst, Hoffegen, morgendliches Waschen mit kaltem Wasser und Frühsport. Auch unsere Offiziere wurden uns vorgestellt. So ging es einige Tage weiter. Dann wurde Einzelausbildung angesetzt. Das vorschriftsmäßige Grüßen ist auch geübt worden. Von da ab mussten wir alle Offiziere und Unteroffiziere militärisch grüßen. Bei der Einzelausbildung spürten wir schon die militärische Erziehung. Uns wurde am 25.11.1918 auch gesagt, dass wir bei guter Führung und entsprechendem Verhalten nach unserer Entlassung zur „Vorschule“, wie wir sagten, überwechseln könnten und dass wir in den Schulferien nur dann Urlaub erhielten, wenn wir vorschriftsmäßig Grüßen und uns als Soldat benehmen könnten.

ps_20161023204426Im Sportunterricht wurde am Reck und Barren geturnt, Hochsprung und Weitsprung wurde geübt. Ein beliebtes Spiel war Paarlaufen. Aber auch die Laufzeit wurde gestoppt. Schwimmen musste jeder lernen. Hierfür war im Wald ein Schwimmbad gebaut. Wer sich gar zu dumm beim Schwimmen anstellte und es nicht lernen wollte oder konnte, den nahm ein Unteroffizier an die Angel. Hatte er genügend Wasser geschluckt, lernte er es schnell. Jeden Tag erfolgten Kleiderappelle. Das Mützenfutter war ein besonders gefürchteter Appell. Aber auch beim Uniform- und Drillichzeug gab es viele Anlässe zur Strafe. Zum Waschen des Drillichzeugs und Schrubben mit einer Wurzelbürste standen Steintröge unter einer Pumpe. Der Dienst wurde immer strenger. Klappte es nicht, wurden manchmal 20 bis 30 Minuten Dauerlauf eingelegt. Dann kam unser erster Urlaub. Stolz fuhren wir in Uniform mit Militärfahrschein.
Neue Situation und ihre Auswirkungen

Nach der Revolution im November 1918 waren alle zunächst ratlos, wie es weitergehen sollte. Geld für die Schule wurde nur noch zögernd bewilligt. Die Verpflegung war nicht mehr gesichert. Von Anfang Dezember bis Mitte Januar schickte man uns in Urlaub. Der Dienst und die Schule gingen zunächst weiter. Unseren Kommandeur bekamen wir kaum zu sehen, aber Anordnungen und Verordnungen gab er weiterhin heraus.

Vom Weihnachtsurlaub 1918/19 kamen fast 100 Jungen nicht mehr zurück. Obwohl in Deutschland nach dem Kriege in der Bevölkerung Not herrschte, blieben sie zu Hause. Es wurde auch nicht nach ihnen geforscht. Als dann im März 1919 die normale Entlassung des Jahrgangs erfolgte, war es bedeutend leerer in den Klassen.

Im März 1919 hatten wir noch ein besonderes Erlebnis: In der großen Pause bekamen wir immer ein Stück trockenes Brot, 25 mm dick. Da dies ein Zoll war, hieß der Hausmeister bei uns „Zollmaus“. Sonst wurde dieses Brot beim Hinausgehen auf dem Schulhof verteilt. An einem Tag im März 1919 mussten wir jedoch alle in den Klassen bleiben, und es durfte keiner die Schule verlassen. Was war geschehen? Ein Lastauto aus Wittenberg oder Torgau, genau weiß ich es nicht mehr, war vor das verschlossene Tor am Vorderschloss vorgefahren und jemand verlangte den Kommandeur zu sprechen. Der Hausmeister erklärte, er habe keinen Schlüssel. Auf dem Lastwagen saßen einige Männer in abgetragenen Soldatenuniformen, aber mit Armbinden, auf denen stand: „Arbeiter- und Soldatenrat“. Irgendwo soll noch „Spartakus-Bund“ gestanden haben. Dem Hausmeister erklärten sie, man wolle nur die Offiziere abholen. Daraufhin wurden alle Unteroffiziere alarmiert und stellten sich hinter dem Tor auf. Die Männer auf dem Lastwagen sollen mit Gewehren bewaffnet gewesen sein. Es hat ein lautes Palaver gegeben und die Männer sollen gedroht haben zu schießen. Plötzlich kam eine Kompanie Unteroffiziervorschüler anmarschiert und stellte sich hinter dem Wagen auf, so dass dieser nicht zurückfahren konnte. Der führende Offizier, ein Leutnant, ließ Gewehr bei Fuß nehmen und forderte die Männer auf dem Lastwagen auf, ihre Legitimation zu zeigen, außerdem anzugeben, welche Dienststelle sie beauftragt habe und ob sie im Besitz einer schriftlichen Anordnung seien. Dies war nicht der Fall. Nach vielem Hin und Her traten die Männer auf dem Lastwagen den Rückzug an.

folie5Wir Zöglinge durften erst die Schule verlassen, als alles vorbei war. Für uns Zöglinge hatte die ganze Sache etwas sehr Gutes gebracht. Die Unteroffiziervorschüler durften seit dem Vorfall auf den Sportplatz kommen wenn wir Freizeit hatten und so entwickelte sich eine Kameradschaft zwischen uns und den Vorschülern. Sie waren von da ab unsere größeren Brüder.
Auflösung

 

Albert Müller in Zöglingsuniform
Albert Müller in Zöglingsuniform
Nach Ostern 1919 ließ der militärische Dienst etwas nach, dafür wurde mehr Schulzeit, Turnen und Freizeit eingeplant, aber auch Arbeitsdienst vermehrt eingeführt. Zum Beispiel mussten wir im Wald Kienäpfel sammeln, die dann in der Annaburger Darre abgegeben wurden. Außerdem war Gartenarbeit unter Leitung eines Gärtners zu leisten. Es wurde wohl noch exerziert, aber nach den Sommerferien 1919 stand auf dem Dienstplan nicht mehr „Exerzieren“, sondern „Gemeinschaftsübung in Bewegung“. Strafexerzieren hieß „Leistungstraining“...

 

So ging es bis zum Jahre 1920. Kommissionen kamen und erklärten, die annaburger Zöglingsausbildung sei noch zu militärisch. Die blanken Knöpfe müssten weg, ebenso die Kokarden an den Mützen. Die Kompanien benannte man um in Hundertschaften, aus den Unteroffizieren wurden Pfleger, aus den Offizieren Erzieher, und unser Oberstleutnant (kurz zuvor noch zum Oberst befördert) hieß jetzt Direktor. „Militär-Knaben-Erziehungs-Institut“ sollte in „Erziehungsanstalt“ umbenannt werden, doch dagegen protestierten wir alle und erklärten, dass wir sonst nach Hause fahren würden. Am Ende blieb es bei Militär-Knaben-Erziehungs-Institut.
An Stelle des Feldwebels Fuhrmann kam ein junger Unteroffizier, mit dem wir gut auskamen. Er hieß Brösgen, doch wir sagten „Pröstchen“ zu ihm. Nach der Entlassung des Jahrgangs 1920 (mit Jahrgang ist immer das Entlassungsjahr gemeint) wurden die 1. und 2. Kompanie in das Hinterschloss verlegt. Wir waren mittlerweile von 500 aus 200 Zöglinge zusammengeschrumpft. Die Disziplin wurde immer noch streng gehandhabt, aber der militärische Dienst nicht mehr so wahrgenommen wie bisher.

Auch die Musikschule löste man auf, angeblich fehlte das Geld für die Musiklehrer. Unsere Kapelle blieb noch bis zum letzten Tag der Auflösung.

Anstelle des militärischen Dienstes traten mehr Unterricht und Sport. Unteroffizier Brösgen nahm uns an vielen Nachmittagen in den Tiergarten mit. Er setzte sich auf ein Hünengrab und erklärte uns die politische Lage in Deutschland und auch den Friedensvertrag, soweit er damals bekannt war. Auch sagte er uns, dass trotz der Bemühungen des Direktors das Institut nicht zu halten sei, sondern aufgelöst werden müsse. Früher als das Institut wurde die Unteroffiziervorschule aufgelöst. Einen Teil der Schüler übernahm die Reichswehr, etwa 30 Schüler wurden im Vorderschloss Annaburg untergebracht. Wir lebten dort kameradschaftlich mit ihnen zusammen. Ich war der jüngste der Rekruten und zugleich der Letzte, der eingestellt wurde und habe dann auch als Letzter das Schloss verlassen. Weihnachten 1920/21 fuhren wir noch einmal auf Militärschein in Urlaub. Wir trugen noch Uniform, wenn auch ohne Kokarden an der Mütze, bedingt durch den „Pleitegeier“, wie es damals hieß. Die blanken Knöpfe waren mit einem Tuch überspannt, doch das Blanke schimmerte hindurch.
Entlassung

folie7Nach dem langen Weihnachtsurlaub bis gegen Ende Januar stimmte man uns auf die Entlassung und Auflösung des Instituts und die Entlassungsfeierlichkeiten ein und bereitete die Konfirmation vor. Alle ehemaligen Zöglinge und Vorschüler sowie deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigte wurden eingeladen. Wir Zöglinge lernten Sketche, Theaterstücke und Gedichte. Über die Entlassungs- und Auflösungsfeierlichkeiten, die überall bekannt gemacht wurden, sei nur soviel gesagt, dass einige Hundert ehemalige Zöglinge und Vorschüler erschienen waren, die alle die Schließung des Instituts bedauerten.
Nach den Entlassungsfeierlichkeiten konnten wir noch nicht gleich nach Hause fahren. Das Institut sei aufgelöst, mit diesem Argument verweigerte uns die Bahn den Militärfahrschein. Die Bahnfahrt sollte bar bezahlt werden. Aber weder die Anstalt noch wir Zöglinge hatten Geld. Dienst fand nicht mehr statt. Doch die Tore waren immer noch verschlossen, angeblich bestehe die Gefahr, dass wir die Bürger anbetteln würden. Ich hatte inzwischen Freundschaft mit einem Vorschüler geschlossen. Wir verbrachten viel Zeit mit Schachspielen. Nun, da wir ohne Dienst in dem Schloss herumlungerten, sagte er mir, dass er im letzten Sommer als Erntehelfer bei einem Bauern gearbeitet hätte und dass dort eine Festlichkeit stattfände. Wir brauchten nur hinzugehen, er würde überall empfangen und wir könnten uns auch Kuchen abholen.

Die Tore waren noch verschlossen, aber die Vorschüler hatten einen Schlüssel. Einer ließ uns hinaus. Bis Dommitzsch waren es 12 Kilometer und die Fähre war schon wieder in Betrieb. Die Bauern in Dommitzsch begrüßten uns freundlich. Bald hatte jeder den Rucksack voll Kuchen. Die letzte Fähre verpassten wir, doch ein Mann setzte uns mit dem Boot über. Gegen Mitternacht waren wir dann am Schlosstor. Wir hatten aber keinen Schlüssel und mussten den Hausmeister herausklingeln. Als dieser mich sah, ging er wie eine Furie auf mich los. Wäre der Vorschüler nicht dabei gewesen, hätte er mich verprügelt. Er redete von Disziplinlosigkeit, ohne Erlaubnis hätte ich mich vom Schloss entfernt. Langsam begriffen wir, was geschehen war. Die Fahrscheine waren am Tag vorher gekommen. Um im Schloss in der Nacht Ruhe zu haben, hatte man nichts gesagt und die Fahrscheine auch nicht ausgehändigt. Gegen 5.00 Uhr morgens waren alle geweckt worden. Wir beide hatten aber schon um 4.00 Uhr die Garnison verlassen und ich hatte am Abend vorher in der Stube der Vorschüler geschlafen. Die Folge war: Das Schloss stand nach unserer Rückkehr leer, und kein Zögling war mehr da.

Zum Schluss sagte der Hausmeister versöhnlich: “Du gehst jetzt in deinen Saal zum Schlafen. Morgen früh ziehst du den Zivilanzug an und gibst mir die Uniform, dann bekommst du den Fahrschein und die Entlassungspapiere.“ Im Saal 224 angekommen wurde es mir unheimlich, ich als Einziger im Hinterschloss. Überall knisterte es und allerhand Geräusche waren zu hören.

Morgens wurde ich mit großem Gelächter empfangen. Mir wurde gesagt, ich sei ein toller Held. Dann gab ich meine Sachen ab. Von einem nun wieder sehr freundlichen Herrn Höhne wurde ich verabschiedet. Er wünschte mir alles Gute. Wenn ich mir jetzt die annaburger Zeit durch den Kopf gehen lasse, so muss ich sagen: Annaburg hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Heute bin ich stolz und dankbar, ein „Annaburger“ gewesen zu sein. Im Zweiten Weltkrieg war ich als Leutnant bei einer Spezialeinheit eingesetzt.

Quelle

  • Thomas Finke, Konzept zur Ausstellung MKI, Annaburg 2008
  • Verein f. Heimatgeschichte u. Denkmalpflege Annaburg (Hrsg.) Jagdschloß Annaburg – Eine geschichtliche Wanderung, Horb/Neckar 1994;